Das Hochwasser 2024 verursachte nicht nur im Tullnerfeld enorme Schäden, sondern legt bis jetzt ganze Wirtschaftsbereiche Ost-Österreichs lahm. Vor allem die, welche auf Güterverkehre angewiesen sind, die über die Westbahn-Strecke kommen. Jetzt beginnt die Suche nach der Verantwortung für die entstandenen Schäden, denn es stellt sich heraus, dass sie vermeidbar gewesen wären. Der Vorwurf der Fahrlässigkeit bei der Planung und Umsetzung steht im Raum. Sowohl das Land Niederösterreich als auch die ÖBB könnten dafür in die Pflicht genommen werden. Warum, das lesen Sie hier. (Ein Bericht von HaJo Schlobach)

Die Bilder der Starkregenfälle und Überschwemmungen in Österreich vom vergangenen September werden wohl noch längere Zeit in den Köpfen der Österreicherinnen und Österreicher in Erinnerung bleiben. Nicht zuletzt deswegen, weil die Folgen einen Monat danach nicht überschaubar sind. Und noch immer dauern die Aufräumarbeiten an. Manche Ortschaften gehen beispielsweise erst jetzt wieder an das Kanalisationsnetz. Sauberes Trinkwasser ist erst kurz vor Redaktionsschluss wieder in ganz Klagenfurt zu bekommen. Und viele Menschen der Regionen Niederösterreich, Kärnten und der Steiermark stehen jetzt vor dem buchstäblichen Nichts. Ganze Lebenswerke wurden durch diese “Sintflut” ausgelöscht und sind unwiederbringlich verloren.
Hochwasser 2024 – Hilfen sind bereits angelaufen
Und das, obgleich Tausende freiwillige Helferinnen und Helfer, die Feuerwehren und das Bundesheer ausgerückt sind, Akuthilfe zu leisten. Auch sind die finanziellen Hilfen für die Opfer der Flutkatastrophe bereits angelaufen – unterstützt vom Bund und der EU. So bietet die Initiative “Österreich hilft Österreich” schnelle und unbürokratische Überbrückungshilfen für Schäden des Hochwasser 2024 an. Betroffene können sich aber auch direkt bei Hilfsorganisationen wie Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Rotes Kreuz und Volkshilfe melden. Unterstützt werden die Privatinitiativen vom Bund, welcher 100 Millionen Euro dafür zur Verfügung stellt. Auch die EU zahlt zusätzliche Hilfen von insgesamt zehn Milliarden Euro an die betroffenen EU-Länder aus. Auf Österreich entfallen dabei rund 500 Millionen Euro.
Politischer Verteilungshickhack hilft nicht
Damit sind wahrscheinlich die materiellen Schäden weitgehend abgedeckt. Es dürfte allerdings davon abhängen, wie rasch und in welchem Umfang die finanzielle Hilfe an die Betroffenen ausbezahlt wird. Darüber herrscht bislang jedenfalls weitgehend politische Uneinigkeit. Während die einen (SPÖ, FPÖ) die Schäden zu 100 Prozent abdecken wollen und zusätzliche Maßnahmen fordern, sehen andere (z.B. ÖVP) die finanzielle Entschädigung mit 20 Prozent der Schadenssumme als ausreichend. Der politische Hickhack rund um das Hochwasser 2024 könnte dazu führen, dass die Betroffenen noch lange auf staatliche finanzielle Hilfen warten müssen. Betroffene der letzten großen Flutkatastrophe im Jahr 2000 mussten Jahre darauf warten. Diese Perspektiven werden das Leid der einzelnen Schicksale, welche mit der Flut verbunden ist, jedenfalls nicht lindern. Es wird ohnehin wahrscheinlich noch Jahrzehnte Verarbeitungszeit benötigen, insbesondere dort, wo es Todesopfer zu beklagen gibt: es sind fünf.
Hochwasser 2024 – Tullnerfeld wie im Jahr 2000 besonders betroffen
Eine der am schwersten betroffenen Regionen bei der Flutkatastrophe 2024 ist dabei das Tullnerfeld in Niederösterreich. Es erstreckt sich von Krems an der Donau im Westen bis zur Wiener Pforte im Osten. Dabei ist die Region im Norden vom Wagram und im Süden vom Wienerwald umrahmt und ist eine, einst von der Donau angeschüttete Schotterfläche. Die Region umfasst dabei mehrere Gemeinden, darunter Tulln an der Donau, Atzenbrugg, Judenau-Baumgarten, Königstetten und Michelhausen etc. Sie ist vor allem bekannt für seine landwirtschaftliche Nutzung und gilt als eine der ertragreichsten Flächen Österreichs.
Ein fast vergessenes Überschwemmungsgebiet
Doch das Tullnerfeld ist noch mehr: es war schon immer ein Überschwemmungsgebiet vor den Toren Wiens. Hier fließt nämlich nicht nur die Donau, sondern es ist ein wasserreiches Gebiet, das gleich von mehreren Flüssen durchzogen wird, die ihren Weg zur Donau suchen. Die wichtigsten sind dabei die Krems, die Traisen, die Kamp, die Perschling, die Große Tulln, die Kleine Tulln und die Schmida. Insbesondere die Perschling gilt dabei als besonders anfällig dafür, über die Ufer zu treten und für großflächige Überflutungen zu sorgen. Sie war daher auch sowohl im Jahr 2000 und auch beim Hochwasser 2024 hauptursächlich für die Jahrhundertfluten in der Region. Schon damals brachen ihre Deiche, so, wie in diesem Jahr. Und auch heuer setzte der Donauzulauf Langmannersdorf und Atzenbrugg unter Wasser.
Deiche – Probleme seit 1997 bekannt

Die Deichanlagen der Region und insbesondere die der Perschling gelten also spätestens seit dem Jahr 2000 als Sanierungsfall, tatsächlich aber bereits seit dem Jahr 1997, wie jetzt der ORF Niederösterreich berichtet. “Die Dringlichkeit einer Sanierung ist seit 1997 bekannt”, sagt Rudolf Friewald, Obmann des zuständigen Wasserverbandes und langjähriger Bürgermeister von Michelhausen (Bezirk Tulln) gegenüber dem ORF und weiter: „Damals (Anm.: 1997) hatten wir schon einen Dammbruch bei einem Hochwasser und in diesem Zeitraum haben wir gesagt, wir müssen ein Projekt starten.“
Hochwasser 2024 – Außer Spesen nichts gewesen
Deswegen seien in den Folgejahren viele Gutachten erstellt worden, bei denen gleich mehrere Schwachstellen aufgezeigt wurden. Dass aber gerade der Perschling-Damm problematisch ist, weiß man bereits seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Damals wurde dieser nämlich durch Bombentreffer schwer beschädigt und danach nur notdürftig saniert. Die Entscheider im Land Niederösterreich, welche zu jung sind, das zu wissen, musste die Problematik jedoch spätestens seit der Jahrhundertflut im Jahr 2000 bewusst worden sein. Das ist sogar sehr wahrscheinlich, denn 2016 legte das Land wegen der Hochwassergefahr in dieser Region eine geplante Umfahrungsstraße auf Eis, berichtet der ORF. Und wer digitale Beweise für die Hochwassergefahr haben wollte und will, die von der Perschling ausgeht, kann sich seit 2018 in Simulierungen am PC ansehen, wie sich ein Dammbruch in der Region auswirkt.
Störrische Landwirte sind schuld
Das Land Niederösterreich hätte also beinahe 30 Jahre Zeit gehabt, eine adäquate Lösung für den Hochwasserschutz für die Einwohner im Überflutungsgebiet der Perschling und darüber hinaus zu planen und umzusetzen. Doch beließ man es lediglich beim Stopfen von Löchern mangels Geldes, wie es inoffiziell auch gegenüber dem ORF heißt. Auch hätten laut Recherchen des ORF angeblich der Naturschutz und Auflagen der EU sowie einige Landwirte dazu geführt, dass bis heute nichts geschehen sei. Fraglich ist dabei allerdings, warum man in Niederösterreich nicht mit Planungen und Genehmigungen begonnen hat, lange noch bevor Naturschutzgesetze und Naturschutz-Richtlinien der EU entstanden. 1995 trat Österreich der EU bei, seit 1997 ist die Problematik bekannt und der Green Deal der EU wurde erst im Dezember 2019 von der EU-Kommission vorgestellt. Auch erscheint es fragwürdig, die Schuld auf Landwirte zu schieben, bei einem derart dringlichen Projekt wie die Sanierung eines maroden Dammes. Hier dürfte vermutlich einfach nur der Preis für die Grundstücke nicht gepasst haben. Außerdem haben Gesetzgeber entsprechende Durchsetzungsmöglichkeiten, weil das allgemeine Schutzinteresse in solchen Fällen über dem Individualinteressen eines oder mehrerer Landwirte steht. Die Argumentation der Verantwortlichen in Niederösterreich ist also wenig schlüssig. Ob so oder so: öffenbar dürften die vielen Hindernisse seit vergangenem Jahr aus dem Weg geräumt sein. Die Einwohner müssen aber noch mindestens bis 2026 warten, bis an einer Sanierung des Deiches zu denken ist, heißt es. Für das Hochwasser 2024 war man also wieder zu spät.
Frotzelei der betroffenen Flutopfer
Auf Anfrage des ORF schreibt hierzu die zuständige Abteilung “Wasserbau” des Landes Niederösterreich nach beinahe dreißig Jahren seit Bekanntwerden der Sanierungsnotwendigkeiten: “Das Land NÖ hat der Umsetzung des Projekts stets einen großen Stellenwert beigemessen. Gewässerökologische Erfordernisse, fußend auf der EU-Wasserrahmenrichtlinie (insb. Herstellung der Fischpassierbarkeit), stellten das Vorantreiben des Projekts ebenso vor große Herausforderungen, wie andere europäische Vorgaben des Natur- und Artenschutzes (FFH-Richtlinie).“
Hochwasser 2024 – Wer die Schäden bezahlen soll
30 Jahre und zwei Überflutungen später, die aufgrund von Brüchen des Perschling-Deiches an nahezu derselben Stelle erfolgten, stellen die Anwohner im Tullnerfeld daher die Frage nach der Haftung für die Schäden. Zwar argumentiert das Land Niederösterreich, dass es sich im September um ein Wetterereignis gehandelt habe, dass alle 300 Jahre auftritt. Doch dürfte diese Argumentation wegen der regionalen Nähe und Deichbrüche innerhalb von 24 Jahren schwer zu halten sein. Die Sache dürfte daher früher oder später die Gerichte beschäftigen. Es stehen bereits Klagen im Raum.
(Nachtrag 13.10.2024: Das profil berichtet in seiner aktuellen Ausgabe, dass die ÖBB nun eine Klage gegen das Land Niederösterreich prüfe. Wir bleiben für Sie am Ball.)
Hochwasser 2024 – Lieferketten unterbrochen, Wirtschaftsregion lahmgelegt

Die Frage des Schadenersatzes dürfte die Gerichte also bald in Hinblick auf Niederösterreich beschäftigen, aber auch in einer anderen Causa, nämlich in Richtung der ÖBB. Denn wer steht dort für die Überflutungen des Atzenbrugger Tunnels der viel befahrenen Westbahn-Strecke gerade? Denn die neue Westbahnstrecke wurde genau in der Zeit geplant und gebaut, in der die Mängel des Perschling-Deiches bereits längst bekannt waren. Auch wurde der jetzt lahmgelegte Atzenbrugger Tunnel 12 Jahre nach der Jahrhundertflut im Jahr 2000 fertiggestellt und in Betrieb genommen.
Die Planer im Überblick
Die Planung für die Westbahn Hochleistungsstrecke zwischen Wien und Salzburg begann im Dezember 1989. Für die Gesamtplanung der Strecke war dabei die ÖBB-Infrastruktur zuständig. Die Neubaustrecke sollte Geschwindigkeiten von bis zu 250 km/h ermöglichen und eine deutliche Verbesserung der Fahrzeiten zwischen Salzburg, Linz und Wien bringen. Gleichzeitig sollte die Kapazität der Schiene dramatisch erhöht werden, um etwa auch mehr Güter von der Straße auf die Schiene zu bekommen. Der Baubeginn der Hochleistungsstrecke war 1998. In dieser Zeit wurde auch die endgültige Trassenführung der Strecke der Öffentlichkeit vorgestellt. Seither wurde laufend in den Ausbau der Strecke investiert.
Wasserbau und Verkehr
Beteiligt an der Planung der Westbahnstrecke in Niederösterreich waren u.a. die Abteilung für Raumordnung und Verkehr und die Abteilung Wasserbau des Landes Niederösterreich. Die Aufgaben der Abteilung Wasserbau umfassten dabei unter anderem Gewässerregulierungen und den Hochwasserschutz der Strecke. Genau das ist bei derart großen Infrastrukturprojekten wie der Westbahnstrecke von entscheidender Bedeutung.
Wir rekapitulieren: Zum Zeitpunkt der Planung war auf unterschiedlichsten Ebenen im Land Niederösterreich bekannt, dass vor allem der Streckenabschnitt zwischen St. Pölten und Wien, insbesondere der Tullnerfelder Bahnhof und der Atzenbrugger Tunnel, signifikant tiefer liegt als die gesamte Westbahnstrecke. Andererseits war schon damals bekannt, dass gerade das Tullnerfeld ein Überschwemmungsgebiet ist wegen der Nähe zur Donau und seiner vielen Zuflüsse. Und last but not least war hinlänglich bekannt, dass besonders der Perschling-Deich bis heute hochproblematisch ist. Fraglich ist, ob die Abteilung für Wasserbau die ÖBB-Infrastruktur über die Problematik Perschling-Deiche im Rahmen der Planung informiert hat.
ÖBB-Infrastruktur und die Rolle von A. Matthä
Mit verantwortlich für die Planung, Finanzen und das Controlling auch der Westbahn-Strecke war von 2001 bis 2016 war Andreas Matthä. Dieser stieg im Rahmen der ÖBB-Infrastruktur in dieser Zeit vom Bereichsleiter zum Vorstandsdirektor für Controlling & Finanzen auf. Im Mai 2016 wurde er zum Nachfolger von Christian Kern nominiert und agiert seither als Vorstandsvorsitzender des ÖBB-Konzerns. Bekanntermaßen wurde Christian Kern 2016 zum Bundeskanzler. Die Frage stellt sich somit: Was wusste Andreas Matthä?
(Nachtrag 13.10.2024: Die ÖBB prüft eine Klage gegen das Land NÖ. Sofern diese Klage nicht kommt, dürften die Verantwortlichen Planer in der ÖBB-Infrastruktur mehr gewusst haben. Haben sie nichts über den Zustand des Perschling-Dammes gewusst, hätten sie dennoch in die ZUkunft planen müssen.)
Hochwasser 2024 – Welche Schäden entstanden sind
Fakt ist, dass wegen des Hochwassers 2024 die Westbahn zwischen St. Pölten und Wien unpassierbar ist. Auch ist der Lainzer Tunnel derzeit unbrauchbar. Bei einer Pressekonferenz der ÖBB am 23. September wurde die Schätzung abgegeben, dass der entstandene Schaden im dreistelligen Millionenbereich liege. Die Vorständin der ÖBB-Infrastruktur, Judith Engel, erklärte im Rahmen dieser Pressekonferenz im Bahnhof Tullnerfeld, dass unklar sei, wann der Betrieb in dem Streckenabschnitt zwischen St. Pölten und Wien wieder aufgenommen werden kann. Doch ab dem 10. Oktober soll die “alte” Weststrecke wieder zweigleisig befahrbar sein. Über diese Strecke können dann rund 150 Züge pro Tag abgewickelt werden, inklusive 50 Güterzüge. Zum Vergleich: Die “neue” Westbahnstrecke bewältigte bis zur Überflutung rund 550 Züge, davon rund 200 Güterzüge am Tag.
Atzenbrugger Tunnel lange Zeit unpassierbar
Fakt ist auch: Der Hauptschaden beim Hochwasser 2024 auf der Westbahnstrecke im Atzenbrugger Tunnel liegt. Er ist bis mindestens Weihnachten nicht nutzbar. Experten gehen jedoch von längeren Sanierungsmaßnahmen aus. Denn das Hochwasser hat nahezu den gesamten Innenbau zerstört, Schienen unterspült etc. Besonders betroffen sind dabei die gesamte elektrische Infrastruktur, die Notfallsysteme des Tunnels sowie dessen Entlüftungsanlage. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass im Rahmen der Sanierung noch weitere Schäden zutage treten.
(Nachtrag 9.10.2023: CEO A. Matthä verkündet, dass die Westbahnstrecke ab 15. Dezember wieder befahrbar sei. Experten haben daran jedoch Zweifel.)
Hochwasser 2024 – Lainzer Tunnel unpassierbar
Auch der Lainzer Tunnel wurde erheblich in Mitleidenschaft gezogen. So wurden Teile der gesamten Infrastruktur zerstört, wobei der Tunnel bis zur Zeit des Redaktionsschlusses noch gar nicht begutachtet werden konnte. Sie stehen noch immer unter Wasser. Zudem wurden einige technische Anlagen, wie Weichenantriebe und Gleisteile zerstört oder beschädigt. Auch hier ist der Zeitpunkt des Wiederbetriebs ungewiss.
Und wieder: Wer für die Schäden haftet
Die Frage nach Verantwortlichkeiten für die Schäden beim Hochwasser 2024 ist darum die Gretchenfrage, welche jetzt voraussichtlich die Gerichte mehrfach klären müssen, denn es ist keineswegs eindeutig, dass das Jahrhunderthochwasser und somit höhere Gewalt für die Schäden verantwortlich gemacht werden können. Vielmehr stellt sich gerade auch in Hinblick auf die ÖBB-Infrastruktur die Frage, ob nicht Fahrlässigkeit bei der Planung und Umsetzung des Westbahn-Projektes in Niederösterreich hauptursächlich für die Schäden sind – vorausgesetzt man wusste über die Perschling-Problematik umfassend Bescheid. Dabei ist der Atzenbrugger Tunnel von größter Bedeutung. Der Baubeginn des Tunnels war 2009, also lange nach der Jahrhundertflut im Jahr 2000, die zu ähnlichen Schäden im Tullnerfeld führte wie jetzt die Flut 2024.
Russisches Roulette auf Landesebene
Wie bereits dargestellt, ist insbesondere im Tullnerfeld die Dringlichkeit der Sanierung des Perschling-Deiches seit 1997 bekannt. Und wie Nachforschungen von ORF NÖ jetzt ergaben, war man in Niederösterreich über die Verzögerungen für die Bewilligung der Sanierungsmaßnahmen wegen Geldmangels nicht unglücklich. Insider machen gegenüber ORF NÖ sogar deutlich, dass man deswegen regelmäßig bei der Priorität nach hinten gereicht worden sei. Ein russisches Roulett mit dramatischen Ausgängen wurde hier gespielt, wie es scheint. Außerdem war dieselbe Behörde für Wasserbau in Niederösterreich an der Planung der Westbahn beteiligt. Sie kannte also die Gründe des Bruches des Perschling-Dammes bei der Hochwasserflut im Jahr 2000 und davor. Ihr ist zudem bekannt, dass der Tullnerfelder Bahnhof und der Atzenbrugger Tunnel signifikant tiefer liegen als die gesamte Westbahnstrecke und sich daher näher am Grundwasser befinden. Das Grundwasser ist übrigens bis zur Erscheinung dieses Artikels ein wesentlicher Grund dafür, dass der überflutete Tunnel nicht vollständig leergepumpt werden konnte.
(Nachtrag 13.102024: Eine Prüfung der Schadensersatzansprüche der ÖBB an das Land Niederösterreich erscheint daher mehr als plausibel.)
War die ÖBB informiert?
Daran schließt sich die Frage an, ob das niederösterreichische Landesamt für Wasserbau und des Verkehrs die Verantwortlichen der ÖBB-Infrastruktur, und damit A. Matthä informiert haben. Da die Entscheidungsfindung bei derartigen Großprojekten sehr intransparent ist, können wir in der Redaktion darüber nur spekulieren. Wir haben jedenfalls direkt bei der ÖBB nachgefragt und bis zur Erscheinung dieses Artikels keine Antwort bekommen. Uns interessierte außerdem, ob nicht Vorkehrungsmaßnahmen die Schäden mildern oder zur Gänze hätten verhindert werden können. Wenn A. Matthä also von der besonderen Hochwassergefahr in dieser Region informiert war, dann hätten Maßnahmen bereits während des Baues ergriffen werden können. Aber selbst wenn die ÖBB-Infrastruktur und er nicht informiert waren, hätte er als langjähriger Fachmann für Bahn-Infrastrukturbau und Finanzvorstand ein Augenmerk auf die besondere geographische Situation im Tullnerfeld haben müssen.
(Nachtrag 13.10.2024: Wir haben direkt bei A. Matthä nachgefragt und bis 8.10.2024 eine Antwort von Peter Thier, Konzernsprecher der ÖBB bekommen. Darin verweist er darauf, dass man für HQ 100 geplant hätte, also für ein Hochwasser auf der Basis des Hochwassers vom Jahr 2000. Gleichzeitig verwies er auf die 300-jahres-Flut, welche unvorhersehbar gewesen sei. Die Unvorhersehbarkeit für den Zeitpunkt dieser Flut ist zwar prinzipiell richtig. Hätte man aber in die Zukunft, in der Wissenschaftler schon längst mit stärkeren Wetterphänomenen rechnen, und nicht in die Vergangenheit geplant, dann hätten präventiv anders geplant werden müssen, so der Vorwurf.)
Welche Schutzmaßnahmen für Hochwasser 2024 gewirkt hätten

Ob die Hochwasserschäden im Atzenbrugger Tunnel zur Gänze hätten verhindert werden können, darüber sind die Meinungen der Bauexperten geteilt. Fakt ist jedoch, dass zusätzliche Dämme und Hochwasserschutzwände das Eindringen von Wasser in den Tunnel zumindest reduziert hätten und der ÖBB Zeit verschafft hätten, wirksame Akutmaßnahmen zu treffen. Gleichzeitig hätte ein effizienteres Entwässerungssystem mit kräftigeren Pumpen innerhalb und um den Tunnel herum das Wasser schneller ableiten können. Wasserdichte Beschichtungen und die Verwendung von speziellen, wasserdichten Materialien an den Tunnelwänden und -böden hätten zusätzlich das Eindringen von Grundwasser zumindest bremsen können. Eine weitere Schutzmaßnahme wären druckwasserdichte Türen und Tore an den Enden der Tunnelanlage das Eindringen von Flutwasser verhindern können. Ein Frühwarnsystem für Flutwasser hätte zusätzlich Zeit verschafft, die gröbsten Schäden zu verhindern.
Gespart am falschen Ort
Freilich: Derartige Maßnahmen sind kostspielig. Doch die Generalsanierung des beschädigten Tunnels plus das Nachinstallieren von Sicherheitsmaßnahmen, um den Tunnel zukunftsfit zu machen, sind wesentlich teurer. Hinzu kommt der finanzielle Schaden durch entgangenes Business und der erhebliche Imageschaden für die ÖBB. Allfällige Schadensersatzansprüche dräuen der ÖBB zusätzlich, denn der Ausfall dieser Hochleistungsstrecke bedeutet nicht nur für die Pendler ein Problem, sondern für die Wirtschaft einer ganzen Region ein finanzielles Fiasko.
Hochwasser 2024 – Ein sicher erwartbares Wetterphänomen
Der Vorstand der ÖBB rund um A. Matthä und der Vorstand der ÖBB-Infrastruktur dürften nach dem Hochwasser nun in wildes Fahrwasser kommen. Angesichts der Tatsache, dass sich gerade der Atzenbrugger Tunnel in einer sehr neuralgischen geographischen Lage der Westbahnstrecke befindet und regelmäßig von “Jahrhunderthochwässern” heimgesucht wird, hätte man hier nämlich mehr investieren können. Und vor dem Hintergrund des bereits damals bekannten Wissens, dass Wetterereignisse wie die vom Jahr 2000 und 2024 in wachsender Heftigkeit auftreten werden, hätte die ÖBB sogar mehr in den Hochwasserschutz investieren müssen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis so ein Hochwasser kommt, wissen Klima- und Wetterexperten. Weitere Hochwässer werden folgen. Das Herausreden auf “Höhere Gewalt” dürfte also nicht vielmehr sein als das Wegschieben der Verantwortung.
Gnervte Pendler
Hatte A. Matthä während der Hermes-Gala im Jahr 2019 in der Wiener Hofburg den anwesenden damaligen deutschen Verkehrsminister Andreas Scheuer noch wegen der Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn (DB) gefrotzelt, dürfte ihm mittlerweile der Spaß vergangen sein. In diesem Jahr war von Pünktlichkeit der ÖBB eher wenig zu spüren und auch der Service rund um die Bahn lässt viele Bahnreisende granteln. Mittlerweile nähert sich die österreichische Bundesbahn dem Niveau der Deutschen Bahn. Jetzt, nach dem Hochwasser, sind viele Bahnreisende endgültig mit ihrer Geduld am Ende. Verursacht durch den Ausfall der “neuen” und den Umstieg auf die “alte” Westbahn musste der existierende Fahrplan komplett umgestellt werden. Gleichzeitig fahren auf der wichtigsten Pendler-Route weniger Züge. Das Erwischen der Anschlusszüge wird nun zum Lottospiel. Das dürfte sich auch wenig ändern, wenn ab 10. Oktober zwei Gleise über die Alte Route zur Verfügung stehen. Vielmehr wie 150 Züge sind einfach nicht drin. Gleichzeitig verlängern sich die Fahrtzeiten auf der Strecke Wien-Linz-Sazburg, was wiederum zu anderen Taktungen der Anschlusszüge führt.
ÖBB – Imageverlust ist greifbar
Der Imageverlust der ÖBB ist deshalb derzeit beinahe physisch greifbar. Eine nicht repräsentative, offene Social Media-Umfrage hat ein Stimmungsbild eingefangen. So beschwert sich ein Fahrgast, dass Samstag und Sonntag in der Früh die Züge von und nach Aspang komplett aus dem Netz genommen wurden. Er müsse sich nun ein Taxi aus Wr. Neustadt kommen lassen und dafür 40,- Euro pro Fahrt berappen. Gleichzeitig beschwert er sich, dass Arbeitgeber ÖBB seine Zugbegleiter (ZuB) in der gegenwärtigen Situation “im Regen” stehen lässt. Ein anderer Fahrgast berichtet hingegen, dass er nun wieder auf das Auto umgestiegen sei. Der Grund ist, dass er mittlerweile zwei Stunden pro Fahrt zwischen seinem Arbeitsplatz in Baden bei Wien und seinem Zuhause mit der Bahn brauche. Das Auto sei flexibler und schneller: 30 Minuten pro Richtung. Ein weiterer Fahrgast beschwert sich über täglich mindestens 15 Minuten Zeitverlust pro Strecke und Tag im Nahverkehr rund um Wien. Und wieder ein anderer lässt darüber Luft ab, dass er ein tägliches Dejà vu in der Südstrecke Baden bis Hauptbahnhof Wien habe: Verspätung oder komplette Zugausfälle. Eingefleischte Bahnfans lassen sich jedoch durch nichts abschrecken, auch nicht durch verunreinigte Bahntoiletten.
Hochwasser 2024 – Lieferketten unterbrochen, Wirtschaft eingebremst

Doch wie fasst die Wirtschaft insbesondere der Ost-Region den Beinahe-Komplettausfall auf? Während im Bereich der Pendler und ÖPV ab 10. Oktober ein Stückweit Normalität zu erwarten ist, ist die wirtschaftliche Situation für Unternehmen noch länger davon Lichtjahre entfernt. Die Westbahn gilt als die wichtigste Route für den Gütertransport in Österreich. Bis zur Überflutung des Atzenbrugger Tunnels rollten hier täglich 200 Ganzzüge mit wichtiger Fracht über die Strecke. Sehr viele, die etwa aus dem Hafen Hamburg, Rostock, Antwerpen oder Duisburg kommen, wurden dabei zum Hafen Wien geleitet und dort von der WienCont ent-, um- und beladen. Zwischen 60 und 70 Prozent des Umschlages im Hafen Wien wird hier über die Bahn abgewickelt. Wie von Insidern zu erfahren war, ist der Bahn-Containerverkehr wegen des Ausfalls der Weststrecke nahezu zum Erliegen gekommen. Auch das Terminal Wien-Inzersdorf hat erhebliche Rückgänge im Container-Umschlag und Zeitverzögerungen zu vermelden. Dadurch sind also ganze Lieferketten von Industrie- und Handelsunternehmen unterbrochen. Ein Insider verglich die Situation in Ostösterreich daher mit dem Suezkanal im Kleinformat. Dort versperrte wochenlang ein Hochseeschiff die Durchfahrt des Kanals.
Resilienz der Logistikwirtschaft
Die Logistikwirtschaft zeigt bei solchen Ereignissen eine hohe Resilienz. Eine Lösung des Problems könnte daher eine Umleitung der Ganzzüge wie etwa zu Hafen Enns sein. Jedoch ist das nur bedingt möglich, weil die Kapazitäten dieses Donauhafens gar nicht ausreichen. Zudem hat man dort auch mit den Folgen des Hochwassers zu kämpfen. Die logische Konsequenz: Die Spediteure setzen die Güter von der Schiene auf die Straße, um ihren Lieferverpflichtungen nachzukommen. Das Problem: Ist der Schritt von der Schiene auf die Straße einmal vollzogen, ist dieser nur mit enormen Anstrengungen der Infrastrukturbetreiber “Schiene” reversibel. Die Mängel beim Hochwasserschutz bei der Westbahn konterkarieren somit sämtliche Versuche und Investitionen der Vergangenheit für die Dekarbonisierung im Güterverkehr auf längere Sicht. Die ohnehin schwierige Situation bei der Rentabilität des Güterverkehrsweges “Schiene” wird dadurch noch schwieriger.
Mehr als nur ein Hochwasserschaden
Hinter jedem Transportauftrag steht ein Unternehmen aus Industrie und Handel. Sind deren Lieferketten unterbrochen, kann das zu Unterbrechungen nicht nur interner Unternehmensprozesse, sondern ganzer Prozessketten innerhalb der Industrie und des Handels führen. Und das bedeutet in weiterer Folge Business-Ausfälle. Bis zum Redaktionsschluss war noch nicht absehbar, welche Schäden in der Wirtschaft durch den Ausfall der Westbahn-Hochleistungsstrecke entstanden sind. Insgesamt dürfte diese ebenfalls in dreistelliger Millionenhöhe ausfallen, so die Schätzungen. Somit wird deutlich, dass es nicht alleine um einen Hochwasserschaden der Bahn und der privaten Hausbesitzer geht, sondern vor allem auch um die Versorgungs- und Liefersicherheit einer ganzen Region. Unternehmen wie die WienCont, Speditionen, welche auf die Bahn setzen, Industrie- und Handelsunternehmen usw. könnten daher ebenfalls versucht sein, Schadensersatzansprüche für die entstandenen Schäden beim Hochwasser 2024 gegen die ÖBB und das Land Niederösterreich anzumelden, stellt sich die Fahrlässigkeit bei den Beteiligten heraus. Doch das werden Gerichte klären müssen.
(Mehr dazu finden Sie auch in der Printausgabe von FaktuM 4/2024)
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