Beschafft der Einkauf immer zu verursachungsgerechten Preisen? Wer das exakte Kostengefüge von Zulieferern und Wettbewerbern kennt, kann auf Augenhöhe argumentieren und neue Zielpreise festlegen. Im Interview erklären die Cost-Engineering – Experten Lars Keller und Gregor van Ackeren der Van der Meer-Gruppe, VDMG (heute Merx Industrie-Netzwerk), wie sich Produkte und Kosten zerlegen lassen – und wie dabei auch der Lieferant profitiert. Ein Beitrag von Sabine Ursel*
BLOGISTIC.NET: Warum wissen viele Einkäufer nicht exakt, ob die von ihnen eingekauften Rohstoffe, Produktkomponenten oder Dienstleistungen den gezahlten Preis wert sind?
L. Keller: Weil ihnen grundlegende genaue Informationen darüber fehlen, wie der Lieferant oder Dienstleister im Einzelnen kalkuliert. Wer sich ernsthaft mit exakten Analysen der Gegenseite befasst, hat komplexe Prozesse zu durchlaufen, insbesondere im industriellen Sektor mit hoher Wertschöpfungstiefe. Ein intelligenter Methodenmix im Hinblick auf Produktkostenkalkulation, Einkaufspreisanalysen bei Make-or-Buy-Fragen und Themen wie Reengineering und Design-to-Cost erfordert hohe Kompetenz. Das können viele Unternehmen schlichtweg nicht hinreichend leisten.
BLOGISTIC.NET: Das bedeutet also, dass viel Potenzial verpufft. Dabei wissen Einkäufer doch eigentlich sehr gut, dass sie ihre Verhandlungsposition erheblich verbessern, wenn sie über die Preisstruktur auf Lieferantenseite informiert sind.
L. Keller: Ja! Aber wissen und dann entschlossen zu handeln sind zwei Paar Schuhe. Zulieferteile im Detail zu zerlegen, dann anhand einer komplexen Zuschlagskalkulation mit Arbeits- und Gemeinkosten, Maschinenstundensätzen und Deckungsbeiträgen die eigentlichen Kosten transparent zu machen und daraufhin Zielpreise zu definieren, ist alles andere als trivial. Dazu gehören eine Menge Erfahrung und fundierte Daten für diverse Benchmarks. Hier sind erprobte und praxisnahe Lösungsansätze erforderlich, die dem Unternehmen schnell und effektiv die notwendige Transparenz und Ergebnisverbesserung bringen.
Cost-Engineering – Fachleute sind rar
BLOGISTIC.NET: Was gibt der Personalmarkt her?
G. van Ackeren: Entsprechend versierte Experten sind rar gesät darum entsprechend umworben. Die generieren Sie nicht mal eben auf Zuruf. Viele Cost-Engineers sind beispielsweise in der Automotive-Branche aktiv. Hier checkt ein Großteil der Unternehmen die Produktions- und Stückkosten ihrer Lieferanten bis ins kleinste Detail. Wachsende technische Komplexität und volatile Märkte sorgen für hohen Kostendruck. Hier ist es wettbewerbsentscheidend, laufend neue Potenziale über alle Wertschöpfungsstufen hinweg zu identifizieren. Skalierbare Produktkostenanalyse und Value Management werden als erfolgskritische Faktoren immer bedeutsamer.
BLOGISTIC.NET: Klafft wieder mal eine große Schere zwischen Großen und dem Mittelstand?
L. Keller: Verallgemeinern lässt sich das nicht. Es gibt eine ganze Reihe von Mittelständlern, die ebenso wie große OEMs bestrebt sind, bei Neuentwicklungsprojekten sämtliche kostenrelevanten Teile einer Kostenanalyse zu unterziehen. Aber in vielen Fällen ist der Mittelstand in der Tat nicht hinreichend in der Lage, die eigenen Herstellkosten exakt zu bestimmen.
Cost-Engineering – Mischkalkulation verstellt Blick auf Kostentreiber
BLOGISTIC.NET: Das liegt vermutlich nicht nur an mangelnden Kapazitäten?
L. Keller: Nein. Die allgemeine Mischkalkulation verstellt den Blick auf Kostentreiber, Einzel- und Gemeinkosten. Oft fließen beispielsweise Werte für Maschinen ein, die längst abgeschrieben sind. Auch eigene Deckungsbeiträge sind oft nicht ausreichend belegbar.
BLOGISTIC.NET: Es gibt Einkäufer, die sich noch immer auf händisch fortgeschriebene Excel-Werte berufen …
G. van Ackeren: Ja, das ist gar nicht so selten. Das ist höchst fehleranfällig und alles andere als Compliance-gerecht. Der Einkauf soll ja die Wertschöpfung maßgeblich beeinflussen, indem er die globale Lieferantenbasis handlungs- und ergebnissicher betreut. Angesichts fortschreitender Digitalisierung besteht in vielen Unternehmen ganz erheblicher Druck zur Professionalisierung. Hier liegt allerdings auch eine riesige Chance für die Unternehmen, kurzfristig Lösungsmodelle zu implementieren.
Cost-Engineering – Wobei Software helfen kann
BLOGISTIC.NET: Wie können dann Unternehmen, die nicht genügend personelle und finanzielle Kapazität haben, eine bessere Verhandlungsposition erreichen? Was bringt entsprechende Software-Unterstützung?
L. Keller: Das mag ein erster Weg zur Annäherung sein. Aber solche Programme sind starr. Sie erfassen in der Regel nicht die ganze Bandbreite möglicher Einflussgrößen. Über Materialkosten hinaus sind Abschreibungsfaktoren, kalkulatorische Zinsen, Werkzeuge, Wartungs- und Energiekosten feste Parameter, die die Kalkulation des Lieferanten maßgeblich bestimmen. Hinzu kommen diverse variierende und differenzierende Bedingungen für unterschiedliche Fertigungstechnologien. Wer das alles exakt analysieren will, sollte sich nicht auf Software-Programme alleine verlassen.
BLOGISTIC.NET: Zu welchem Modell raten Sie dann?
L. Keller: Die Geschäftsleitung sollte abwägen, ob für ihre Business-Modelle – auch im Hinblick auf die immens zunehmende Digitalisierungstiefe – der Aufbau einer speziellen Kalkulationsabteilung in Frage kommt. Das ist aber mit erheblichen Kosten verbunden und darum für viele Unternehmen auf Dauer nicht leistbar. Ich empfehle darum die Unterstützung durch spezialisierte Lösungsanbieter. So kann der Einkauf innerhalb eines kurzen Zeitraums Transparenz und konkrete Lösungsansätze zur Kostenoptimierung generieren.
Was eine Produktkostenanalyse leisten muss
BLOGISTIC.NET: Was sollte eine adäquate professionelle Produktkostenanalyse leisten?
G. van Ackeren: Anhand ausgefeilter Methodik in Kombination mit systemisch hinterlegten Erfahrungswerten lassen sich beispielsweise Prototypen analysieren und technische Zeichnungen auswerten. Jedes kostenrelevante verbaute Teil wird dann kurzfristig wert- und kostenanalytisch betrachtet. Wichtig ist auch, die zukünftige Höhe der Produktionskosten an unterschiedlichen Produktionsstandorten nachvollziehbar zu simulieren. Ziel muss es sein, frühzeitig zu einem transparenten und optimierten Kostenrahmen zu gelangen, um schnell auch auf laufende Produktionsprozesse Einfluss nehmen zu können.
BLOGISTIC.NET: Aus diesen Erkenntnissen resultieren dann wichtige strategische Fragen …
L. Keller: Genau. Transparenz ist Voraussetzung für Aha-Effekte. Nach dem ermittelten Status quo gilt es für uns als externer Dienstleister im Zusammenspiel mit dem Kunden aufzuzeigen, welche Handlungsoptionen und Lösungsmodelle greifen können. Wir berechnen und bewerten beispielsweise Alternativen zu bestehenden Materialien, stellen kostengünstigere Produktionsarten und erprobte Lösungen vor. Wir eruieren auch Verbesserungspotenziale in Konzepten und Plänen. Zielpreise leiten wir schon in der frühen Entwicklungsphase ab. Im Laufe eines Projektes stellt sich dann auch die Frage, wann es sich lohnt, Fertigung oder Sourcing zu verlagern. Einer unserer aktiven Kunden hat gerade entschieden, die heimischen deutschen Standorte zu stärken. Gründe sind höhere Verfügbarkeit und geringere Kosten für Anschaffung und Wartung. Auslandsaktivitäten sind ja unter Vollkostenbetrachtung nicht immer die bessere Wahl.
BLOGISTIC.NET: Echte Transparenz erzielen Sie nur, wenn Sie die andere Seite genau kennen. Welche Basisinformation muss vom Lieferanten kommen?
G. van Ackeren: Voraussetzung für detailliertes Cost Engineering ist, dass wir für den im Fokus stehenden Lieferanten eine Kostenstrukturanalyse erstellen. In der Regel wird diese auf Basis bestehender Datensätze des Lieferanten erstellt. Das ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn es um langfristige Partnerschaft und gemeinsame Innovationsgenerierung geht. In den Ausnahmefällen, in denen im ersten Schritt keine Kooperationsbereitschaft durch einen Lieferanten besteht, erreicht man trotzdem aufgrund umfangreicher branchenspezifischer Benchmark-Daten und anderer verfügbarer Informationen erstaunlich präzise Kostenanalysen.
Cost-Engineering – Lieferanten lassen sich ungern hinterfragen
BLOGISTIC.NET: Die Lieferanten sind in der Regel nicht erfreut, wenn man ihre Kalkulation hinterfragt und daraufhin mit neuen Preisvorstellungen kommt. Wer setzt sich schon gerne als gefühlt gläserner Partner an den Tisch?
Lars Keller: Ja, Freude sieht wirklich anders aus. Aber wir ermitteln ja nicht nur Abweichungen anhand der Kostenstrukturen des Lieferanten. Wir können ihm wertvolle Hinweise für verbesserte, präzisere Berechnungen geben. In der Praxis erleben wir immer wieder, dass beispielsweise Bleche auf einer überdimensioniert ausgelegten Maschine gewalzt werden. Warum sollte der Einkäufer dafür höhere Preise zahlen? Im Ergebnis profitiert nicht nur unser Geschäftspartner von transparenten Kostenanalysen, sondern auch unmittelbar sein Lieferantennetztwerk.
Cost-Engineering – Lieferanten erhalten gute Informationen
BLOGISTIC.NET: Also sollten die Zulieferer am Ende sogar dankbar sein?
G. van Ackeren: (lacht) Ja, das sollten sie. Schließlich erhalten Zulieferunternehmen so wertvolle Informationen für die eigene Prozessoptimierung, die sie ohne den Einkauf der anderen Seite nicht generiert hätten. Die Erkenntnisse sorgen für bessere Qualität bei Produkten und Prozessen, das kommt schließlich allen Kunden zugute. Und nicht zu vergessen: Von kalkulatorischen Berechnungen und strategischen Ableitungen profitieren letztlich auch andere Abteilungen, etwa Entwicklung und Produktion – und zwar auf beiden Seiten des Tisches.
L. Keller: Dem Einkauf ist nicht in erster Linie daran gelegen, Misswirtschaft des Vertrieblers oder unfaire Preise anzuprangern. Er will durch neue Zielpreise eine bessere Basis für auskömmliche Zusammenarbeit legen. Der Lieferant soll ja nicht kaputtgespart werden. Idealerweise gehen also beide den Weg weiter. Wer sich belegbaren Auswertungen und guten Argumenten verschließt, ist in der Regel eh kein vertrauensvoller Partner für die Zukunft.
Cost-Engineering – Gesprächsleitfaden mit Lieferanten ist hilfreich
BLOGISTIC.NET: Wie sieht dann so ein Gespräch mit dem Lieferanten aus?
G. van Ackeren: Die Basis für Preisverhandlungen ist immer die lieferantenindividuelle Kostenkalkulation. Der Einkauf sollte in speziellen Fällen den eigenen Cost Engineer oder seinen externen Dienstleister aufgrund des besseren Verständnisses und Informationsvorsprungs bei Verhandlungsgesprächen mit dem jeweiligen Lieferanten hinzuzuziehen. Gemeinsam lässt sich auf sachlicher Ebene mit guten Argumenten darlegen, warum der Angebotspreis nicht akzeptabel ist und wo dieser vernünftigerweise liegen müsste. In diesen Gesprächen profitieren alle Beteiligten von einer klaren Rollenverteilung während der Verhandlung.
BLOGISTIC.NET: In welchen Branchen ist Cost Engineering besonders angezeigt?
L. Keller: Das lässt sich nicht einschränken. Cost Engineering birgt für den Handel große Potenziale. Aber ebenso im Industriesektor profitieren beispielsweise Unternehmen aus Automotive, Maschinenbau und Landtechnik. Dort, wo viele Standardteile gefertigt bzw. in großen Stückzahlen eingekauft werden, sind die Margen geringer. In Branchen wie der Medizintechnik ist der Effekt besonders groß. Gründe sind zum einen die Komplexität der teilweise hochsensiblen Produkte und zum anderen die hohen Ansprüche an die Qualität. Lieferanten erzielen hier bei geringen Stückzahlen verhältnismäßig große Gewinnspannen. Diese Spannen können wir bei VDMG durch Cost Engineering exakt analysieren.
Aussehen eines Cost-Engineering – Projekts
BLOGISTIC.NET: Wie sieht so ein Projekt typischerweise aus?
L. Keller: Das hängt von der Branche, Unternehmensgröße und Marktreife des Kunden ab. Wir haben aber grundsätzlich branchenspezifische Lösungspakete, mit denen wir für Kunden innerhalb kurzer Zeit erhebliche erste Kosteneffekte realisieren. Aktuell erstellen wir beispielsweise für einen global agierenden Kunden aus der Landtechnik eine Kostenanalyse für eingekaufte Serienteile und Produkte in der Designphase. Wir schlagen Ansätze für Kostensenkungsmaßnahmen vor. Konkret: Wir machen Kostentreiber transparent, zerlegen die Produkte in Einzelteile, bilden Materialgruppen, kalkulieren die Produktkosten neu. Zudem führen wir gemeinsam mit unserem Kunden Lieferanten-Workshops durch, um gewonnene Ergebnisse, Should Costs und Erwartungen zu kommunizieren. Auch bei den folgenden Preisverhandlungen sind wir unterstützend dabei, und wir begleiten den Weg bis zur Vertragsunterzeichnung.
Die richtige externe Unterstützung suchen
BLOGISTIC.NET: Was gilt es zu beachten, wenn man externe Unterstützung sucht?
G. van Ackeren: Der Einkauf sollte gezielt nach Referenzprojekten bei unterschiedlichen Fertigungstechnologien fragen. Gute Berater können durch Ingenieurs- Know-how Einkaufsartikel auch dann detailliert nachkalkulieren, wenn sie den aktuellen Bestandslieferanten in der Produktion nicht besucht haben. Es gilt, Material-, Fertigungs- und Gemeinkosten zu berechnen bzw. zu bewerten. Auf Basis laufend aktualisierter weltweiter Datenbankinformationen mit Vergleichswerten muss es dann beispielsweise auch möglich sein, Produktionskosten von Konkurrenten zu analysieren. Das setzt eine hohe Datenqualität voraus, die selbst erfolgreiche Unternehmen nicht intern vorhalten bzw. fortschreiben können. Darum holen sich auch größere und erfolgreiche Firmen professionellen externen Support. Schließlich gilt es, die eigenen Mitarbeiter mit neuen Methoden vertraut zu machen.
L. Keller: Entscheidend für sinnhaft geplante Cost-Engineering-Projekte ist eine belastbare Datenbank, die nicht nur Vergangenheitswerte und Marktpreise abbildet, sondern auch Simulationen ermöglicht. Ohne hinreichend gepflegte weltweite Werte lassen sich Produktkosten, Abweichungen, Alternativen und Make-or-Buy-Entscheidungen nun einmal nicht seriös aufarbeiten.
BLOGISTIC.NET: Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Autorin:
Sabine Ursel leitete von 2001 bis 2015 die Abteilung Kommunikation/Presse beim BME (Frankfurt/Main), seit April 2015 ist sie Journalistin und Kommunikationsberaterin mit Schwerpunkt Einkauf/Vertrieb.
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