Die Frühjahrsprognose 2022 für Zentral- und Osteuropa des Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, Wiiw, zeichnet ein kriegsadäquates Bild. Das BIP der Ukraine bricht 2022 um 38 bis 45 Prozent ein und die russische Volkswirtschaft hat Wladimir Putin mit seinem Krieg auf eine Talfahrt mit einem Gefälle von bis zu 15 Prozent geschickt. Gleichzeitig galoppiert die Inflation den Russen mit 28 Prozent davon. Gleichzeitig trifft es die EU-Oststaaten moderat mit einem durchschnittlichen Wachstum von 2,5 Prozent.
Wladimir Putin hat mit seinem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine due russische Föderation und die Ukraine ökonomisch auf eine rasante Talfahrt geschickt. Aber auch die anderen 21 Volkswirtschaften Mittel- Ost- und Südosteuropas (CESEE) sind davon betroffen, wenngleich keineswegs so massiv und unterschiedlich stark. Das zeigte das Wiiw im Rahmen einer Pressekonferenz in seiner neuen Frühjahrsprognose. Dabei gehen die Wirtschaftsforscher von einem Status-Quo-Basisszenario aus, bei dem der heiße Krieg Putins gegen das Nachbarland noch heuer endet. Sollte der Krieg aber weiter eskalieren und die EU ein Öl- oder sogar Gasembargo gegen Russland verhängen, dürfte auch in Ostmitteleuropa ein leichter Abschwung einsetzen.
WIIW sieht zweigeteilte Entwicklung
Der Bericht, der von Wiiw-Direktor Mario Holzner und der Autor der Frühjahrsprognose, Vasily Astrov, heute vorgestellt wurde, sieht dabei eine zweigeteilte Entwicklung. So kommen die 11 EU-Mitglieder der Region vergleichsweise gut weg. Während diese im Basisszenario heuer im Schnitt um 2,5 Prozent wachsen, würden sie im Worst Case höchstens 0,9 Prozent leicht schrumpfen. Die überfallene Ukraine und Aggressor Russland verzeichnen hingegen in diesem Jahr – je nach Szenario – einen massiven bis besonders Absturz. So gehen die Wirtschaftsforscher bei der Ukraine von einem Wirtschaftseinbruch aus, der zwischen 38 und 45 Prozent des BIP gegenüber 2021 liegt. Gleichzeitig hat W. Putin dem russischen BIP eine Schrumpfkur verpasst, die zwischen minus neun und minus 15 Prozent liegt, welches den gesamten GUS-Raum erfassen wird. Auch die ohnehin wirtschaftlich gebeutelte Türkei als zweitgrößte Volkswirtschaft der Region wächst im besten Fall nur noch um 2,7 Prozent, dürfte aber in 2022 eher gar nicht wachsen und im schlechtesten Fall um 2,5 Prozent schrumpfen.
Ukraine stark angeschlagen
Wie M. Holzner wegen der volatilen Situation im Kriegsgebiet und anderer Faktoren wie das Wiederaufflammen der Coronapandemie in China einräumt, ist die vorliegende Prognose lediglich ein Status-quo-Bericht, der sich rasch verändern kann. Das hängt einerseits davon ab, wie schnell der Krieg beendet wird und wie schnell der Wiederaufbau in der Ukraine beginnen kann. Andererseits ist es fraglich, wie schnell die VR China die Coronapandemie in den Griff bekommt oder von ihrer Zero-Corona-Politik abstand nimmt.
Wirtschaft schrumpft erheblich
Ob so oder so: Laut der heute veröffentlichten Frühjahrsprognose verliert die Ukraine 2022 rund ein Drittel bis die Hälfte ihrer Wirtschaftsleistung. Allerdings ist das Land selbst zweigeteilt. In den Gebieten, in denen es keine Kämpfe gibt, zeigt sich die Wirtschaft aber bisher erstaunlich widerstandsfähig. In den vom Krieg betroffenen Regionen ist die Wirtschaft hingegen gänzlich zum Erliegen gekommen. Es handelt sich um die Regionen, wo in Friedenszeiten die Stahlindustrie der Ukraine zu Hause ist und wo enorme Rohstoffvorkommen abgebaut werden. Hier wurden bisher 53 Prozent des BIP erzeugt, d.h. 43 Prozent der industriellen Produktion und 34 Prozent der Agrarproduktion der Ukraine werden dort erwirtschaftet. Und über die Schwarzmeerhäfen werden 50 Prozent der Exporte des Landes abgewickelt.
Budgetdefizit schnellt um 25 Prozent nach oben
Das Budgetdefizit dürfte heuer also auf 25 Prozent des BIP nach oben schnellen und wird sich voraussichtlich nur mit westlicher Finanzhilfe abdecken lassen. Die Aussichten für das Land in diesem Jahr sind düster und hängen vom weiteren Verlauf des Krieges ab. „Auch bei einem Waffenstillstand und einer politischen Lösung dürfte ein kräftiger Aufschwung erst 2024 einsetzen, weil private Investoren wohl nur langsam wieder ins Land zurückkommen würden“, sagt V. Astrov, Senior Economist am WIIW, gegenüber den Medien.
Wladimir Putin stürzt Russland in tiefe Rezession
Doch Diktator Wladimir Putin hat bei seinen imperialen Bestrebungen in der Ukraine offenbar die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Er stürzt die russische Föderation mit seinem Vernichtungskrieg nämlich in eine tiefe Rezession, aus der das Land voraussichtlich nur schwer herausfinden wird. Durch die westlichen Sanktionen erfährt die Wirtschaft Russlands einen massiven Einbruch von mindestens neun Prozent. Die Bevölkerung ist gleichzeitig mit einer Inflation von mindestens 20 Prozent konfrontiert bei gleichzeitig explodierender Arbeitslosigkeit. Ein Öl- und Gasembargo der EU könnte das russische BIP sogar um bis zu 15 Prozent schrumpfen und die Inflation auf 28 Prozent steigen lassen (Worst Case). Das würde die Haushaltseinkommen und damit den privaten Konsum noch weiter reduzieren und die Wirtschaftskrise noch weiter verschärfen.
Westliche Unternehmen verlassen das Land
„Schon jetzt sehen wir, dass es aufgrund der Sanktionen in vielen Bereichen zu Lieferkettenproblemen kommt. Das und der Rückzug vieler westlicher Firmen, beispielsweise in der Autoindustrie, trifft die industrielle Produktion Russlands ins Mark“, erläutert V. Astrov die Zahlen. So ist das Produktionsniveau in der Automobilindustrie ist bisher um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen. Rund 600 westliche Firmen haben angekündigt, Russland zu verlassen. Die Wirtschaftssanktionen dürften jedoch kaum die Ambitionen W. Putins in der Ukraine stoppen, so die Einschätzung von M. Holzner und V. Astrov. „Denn selbst bei einem Energieembargo der EU wäre die Finanzierung des Krieges wohl nur mittelfristig gefährdet, da die russische Regierung noch immer über große Reserven und fiskalischen Spielraum verfügt, so hart es die Wirtschaft auch treffen würde“, analysiert V. Astrov.
Schon jetzt sehen wir, dass es aufgrund der Sanktionen in vielen Bereichen zu Lieferkettenproblemen kommt. Das und der Rückzug vieler westlicher Firmen, beispielsweise in der Autoindustrie, trifft die industrielle Produktion Russlands ins Mark.
Vasily Astrov, Senior Economist Wiiw
Begrenzte Auswirkungen auf Ostmitteleuropa
Die direkten Folgen des Krieges für die meisten Länder der CESEE-Region bleiben für 2022 im Basisszenario überschaubar, also auch für Österreich. Die Einbußen aus dem Handel (ohne Energieembargo) mit der Ukraine und Russland dürften sich mit Ausnahme von Belarus zumeist auf etwa rund 0,5 Prozent des BIP der Länder belaufen. Bei den Branchen ist dabei vor allem die für die Region so wichtige Autoindustrie direkt betroffen, da die Ukraine ein wichtiger Zulieferer z.B. von Kabelbäumen war.
Flüchtlinge als Chance
Millionen ukrainischer Flüchtlinge kommen in Ländern wie Polen an und werden dort gut betreut und untergebracht. Die dadurch entstehenden Kosten von möglicherweise bis zu 40 Milliarden Euro werden teilweise durch Sondermittel der EU abgedeckt. Obwohl die meisten Flüchtlinge Frauen und Kinder sind, könnten sie im nächsten Jahr das ohnehin knappe Arbeitskräfteangebot in Ostmitteuropa erhöhen. „Die Menschen, die aus der Ukraine nach Europa vor dem Krieg geflohen sind, können zumindest temporär das demographische Problem in der EU lösen helfen, denn es sind häufig zum Teil gut ausgebildete Frauen mit ihren Kindern, die leicht integriert werden können und zudem einen freien Zugang zu den Arbeitsmärkten haben“, sagt hierzu M. Holzner. Er sehe diese Menschen daher als Chance für die Volkswirtschaften in der EU.
Wiiw – Energie- und Lebensmittelpreise steigen
Die Wiiw – Frühjahrsprognose zeigt, dass der Ukraine-Krieg die CESEE-Region vor allem über stark steigende Energie- und Lebensmittelpreise trifft. Sie dämpfen die realen Haushaltseinkommen und damit den privaten Konsum. Viele Regierungen sahen sich deshalb genötigt, der Teuerung mit Preiskontrollen, Steuererleichterungen oder anderen wenig nachhaltigen Maßnahmen entgegenzutreten. „Sollte es zu einem Energieembargo gegen Russland kommen, wird die Inflationsrate in fast allen Ländern Mittel- Ost- und Südosteuropas zweistellig ausfallen“, konstatiert V. Astrov. In der Türkei wird sie selbst im Basisszenario bei rund 55 Prozent liegen.
Auch Österreich hauptsächlich durch Inflation betroffen
„Angesichts eines Gesamtanteils der österreichischen Exporte nach Russland, in die Ukraine und nach Belarus von gerade einmal zwei Prozent sind die direkten Effekte des Krieges und der Sanktionen vernachlässigbar“, beruhigt M. Holzner bei der Präsentation des Wiiw – Berichts. Österreich trifft der Ukraine-Krieg vor allem indirekt über die stark anziehende Inflation (6,8 Prozent im März) und Lieferkettenprobleme, etwa in der Autoindustrie. So mussten mehrere Fahrzeugbauer und Zulieferer aufgrund fehlender Teile die Produktion vorübergehend einstellen. Ihnen fehlten insbesondere zu Beginn des Krieges beispielsweise die „Kabelbäume“, die fast ausschließlich in der Ukraine erzeugt werden. Doch gelingt es den ukrainischen Lieferanten, die Produktion weitgehend aufrecht zu erhalten, ist aus OEM-Kreisen der Automobilindustrie zu hören.
Gasboykott träfe Österreich hart
Ganz anders wäre das im Falle eines Embargos der EU gegen russisches Erdgas. Aufgrund einer fehlgeleiteten Energiepolitik der letzten Jahrzehnte bezieht Österreich rund 80 Prozent seines Gases aus Russland. Deutschland konnte seinen russischen Gas-Anteil mittlerweile von 55 auf 35 Prozent reduzieren, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck heute in einer Pressekonferenz bekannt gab. Daher rechnen die Wirtschaftsforschungsinstitute bei einem sofortigen Gasembargo mit einer Rezession beim Nachbarstaat, die im Bereich von 0,5 bis sechs Prozent des BIP in 2022 und dem darauffolgenden Jahr liegt. „In Österreich könnte der Einbruch angesichts der wesentlich stärkeren Abhängigkeit von russischem Gas wohl noch tiefer als in Deutschland sein“, argumentiert V. Astrov.
Meinl-Reisinger: „BM Gewessler ist untätig“
Umso unverständlicher ist es daher, dass weder seitens des österreichischen Wirtschafts- noch des Umweltministeriums ein Ausstiegsszenario aus russischem Öl und Gas existiert, kritisiert etwa die Parteivorsitzende Beate Meinl-Reisinger der liberalen NEOS bei der „Aktuellen Europastunde“ der heutigen Nationalratssitzung. Sie attestierte der Bundesregierung im Hinblick auf die Ukraine-Krise Untätigkeit bei Fragen der Energiesicherheit in Österreich. Die Oppositionsführerin forderte einen konkreten Plan von Umwelt- und Energieministerin Leonore Gewessler für den Fall, dass Russland „den Gashahn abdreht“. Die angesprochene Bundesministerin Gewessler will erst bis 2027 die Abhängigkeit Österreichs von russischem Öl und Gas beenden. Zum Vergleich: Deutschland ist beim Öl bereits in wenigen Tagen dazu bereit und beim Gas schon bis Mitte 2024. Dann laufen auch die letzten Lieferverträge zwischen Deutschland und Russland aus.
Österreichischer Bankensektor mit russischem Mühlstein
Ungemach droht aber auch einzelnen heimischen Banken, so das Frühjahrsbarometer des Wiiw. Die Raiffeisen Bank International ist mit Aktiva von 18 Milliarden Euro die größte ausländische Bank in Russland. Unicredit, die italienische Konzernmutter der Bank Austria, rangiert auf Platz zwei. Angesichts möglicher Verstaatlichungen ausländischer Vermögenswerte aber auch bei einem regulären Verkauf von Tochterfirmen könnten hier hohe Verluste entstehen, siehe den verlustreichen Verkauf der Russland-Tochter Rosbank der französischen Société Général.
Wiiw -Konjunkturprognose in Kürze
Der Bericht analysiert die Volkswirtschaften von 23 Ländern Mittel-, Ost-und Südosteuropas (CESEE) und liefert eine detaillierte Prognose der makroökonomischen Indikatoren folgender Staaten: Albanien, Belarus, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Estland, Ungarn, Kasachstan, Kosovo, Lettland, Litauen, Moldawien, Montenegro, Nordmazedonien, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakei, Slowenien, Türkei und Ukraine.
Wiiw in Kürze
Das wiiw ist ein wirtschaftswissenschaftlicher Think Tank, der seit fast 50 Jahren volkswirtschaftliche Analysen und Prognosen zu derzeit 23 Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas erstellt. Zudem betreibt das wiiw Forschung zu Makroökonomie, Handelsfragen, Wettbewerbsfähigkeit, Investitionen, zum europäischen Integrationsprozess, zu Regionalentwicklung, Arbeitsmärkten, Migration und Einkommensverteilung.
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