Im Zuge der Transformation der Wirtschaft weltweit und der globalen ökonomischen Kräfteverschiebungen befindet sich Deutschland in einem Deindustrialisierungs-Prozess. Diese Entwicklung findet für viele im Verborgenen statt, weil sie derzeit von diversen Krisen überschattet wird. Eine Diskussion findet oft nur unter Experten statt. Wir von blogistic.net greifen dieses Thema auf. Die zentrale Frage ist dabei: Wie kommt die größte Ökonomie Europas aus der Abwärtsspirale wieder heraus? (Ein exklusiver Fachbeitrag von Dirk Kreuter, ergänzt und überarbeitet von CR Hajo Schlobach)
Pandemie, Kriege, Inflation – die Liste der Krisen in den letzten Jahren ist lang: Und jede einzelne wirkt mit wechselnder Intensität. Derzeit befinden sich Europas größte Ökonomie, Deutschland, am Rande einer Rezession. So meldet im November das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Kiel, dass sich die Rezession, also der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP), kaum mehr vermeiden lässt. Das Barometer ist im November den dritten Monat in Folge gesunken. Es steht mit nunmehr 85,3 Punkten fast drei Punkte niedriger als im Oktober. “Damit entfernt sich der Barometerwert deutlich von der neutralen 100-Punkte-Marke, die ein durchschnittliches Wachstum der deutschen Wirtschaft anzeigt”, heißt es dazu in einer Pressemeldung. Betroffen ist davon ganz besonders die Industrie, die bislang der Garant für Wachstum und sichere Arbeitsplätze war. Bei ihr ist im September 2023 die Industrieproduktion weiter gesunken. Die exportabhängige Industrie allein stellte lt. Statistischem Bundesamt 1,7 Prozent weniger her als im Vormonat August. Besonders der langjährige Vorzeigebereich der deutschen Wirtschaft – die Automobilindustrie – schwächelt merklich. Aber auch dem Maschinenbau geht langsam die Puste aus und kommt bei den Exporten nicht vom Fleck. Allerdings will das DIW im November eine leichte Verbesserung der Lage sehen, weil sich die Geschäftserwartungen für die Industrie “insgesamt etwas verbessert” hätten. Auch bei den Auftragseingängen deutete sich zuletzt eine Erholung an, denn vor allem aus dem Ausland wurden mehr neue Aufträge verzeichnet, so die Wirtschaftsforscher. Das Gesamtbild wird dadurch jedoch nicht besser.
Deutschland – Entwicklung zeichnete sich schon in Boomzeiten ab
Was dabei jedoch übersehen wird, ist, dass sich diese Entwicklung bereits längst vor 2020 abzeichnete und sich jetzt zur größten ökonomischen Gefahr für Deutschland entwickelt: Die Deindustrialisierung. Dabei handelt es sich um ein Thema von zunehmender Relevanz, das in der allgemeinen Wahrnehmung jedoch kaum vorkommt und daher wenig Besorgnis erregt. Das verwundert insbesondere auch deshalb, weil in den Medien vermehrt von Massenentlassungen, Firmenpleiten und Kurskorrekturen berichtet wird. Selbst Deutschlands Vorzeigekonzern Volkswagen landete kürzlich in den Negativschlagzeilen. So macht etwa der Fernsehsender ntv mit der Schlagzeile auf: “Das System Volkswagen droht zu zerbrechen” . So verkündete etwa VW-Markenchef Thomas Schäfer kürzlich der Belegschaft die unangenehme Botschaft, dass die Marke Volkswagen mit den bisherigen Strukturen, Prozessen und hohen Kosten nicht mehr wettbewerbsfähig sei.
Deutschland – Krisen beschleunigen Deindustrialisierung
Die laufenden Krisen verschärfen also das Problem mit der Deindustrialisierung. Und in der Tat: In den letzten drei Jahren hat die Bevölkerung Zeuge einer alarmierenden Entwicklung werden müssen, die eine Wirtschaft aus Unternehmensinsolvenzen, Personalabbau und sinkenden Gewinnen prägte. Deutschlands ökonomische Landschaft, die über Jahrhunderte von ihrer starken Industriebasis profitierte und weltweit als Vorbild wie -reiter galt, sieht sich nun mit der vielleicht größten Herausforderung seit dem Wiederaufbau konfrontiert. Während in einer globalisierten Arbeitswelt neue Player auf den Markt drängen und ihre Bemühungen intensivieren, geht dem ehemaligen Maschinenraum im Herzen Europas die Energie aus. Es braucht somit eine schonungslose Analyse. Gefordert ist eine Kurskorrektur, welche dieser Entwicklung nicht nur entgegenwirkt, sondern die Deindustrialisierung Deutschlands beendet.
Stellenwert der Industrie ist historisch gewachsen
Welchen erheblichen Stellenwert die Industrie in Deutschland einnimmt, macht ein Blick in die Geschichte deutlich. Über mehrere Jahrhunderte hatte sich die Nation zu einer globalen wirtschaftlichen Kraft entwickelt. Der gesellschaftliche Wandel im 19. Jahrhundert, geprägt von der industriellen Revolution mit Ausgangspunkt in Großbritannien, markierte dabei den Übergang von agrarischen Strukturen zu einer modernen Wirtschaft, die auf Produktion und Technologie basiert. Deutschland gelang durch seine günstige Lage inmitten Europas schnell der Schritt zum Vorreiter in Bereichen wie Maschinenbau, Chemie und Elektrotechnik. Klingende Namen wie Mercedes-Benz, Bosch, Siemens oder BASF und Bayer sind in dieser Zeit entstanden. Dabei trug die intensive Industrialisierung nicht nur zur wirtschaftlichen Prosperität bei, sondern beeinflusste auch gesellschaftliche Veränderungen bis hin zur Entwicklung städtischer Zentren. Sie schuf zudem Arbeitsplätze, förderte Innovationen und trug erheblich zum Bruttoinlandsprodukt und damit dem gesellschaftlichen Wohlstand bei. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnete sich eine wiedererstarkte Industrie maßgeblich für den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder verantwortlich. Noch heute eilt Deutschland international der Ruf einer hochentwickelten Industrie mit innovativen Technologien und Qualitätsprodukten voraus. Dieser steht allerdings nun auf der Kippe.
Von Firmenpleiten bis Massenentlassungen
„Die Situation ist sehr kritisch.“ Mit diesen Worten sorgte VW-Markenchef Schäfer bei einem Treffen mit der IG Metall für weiteren Aufruhr. Die Gründe für seinen Pessimismus sind mehr als vorhanden. So lagen die Auftragseingänge schon seit geraumer Zeit unter den Erwartungen. Als Folge müsse der Automobilkonzern auf Sparprogramme setzen. Deshalb kündigte er spürbare Einschnitte an: „Wir müssen ran an die kritischen Themen, auch beim Personal.“ – Allerdings: Mit Massenentlassungen ist der Konzern schon seit fünf Jahren konfrontiert. So neu ist die Schieflage des OEMs also nicht. Verschärft wird die Situation diesmal jedoch durch den Transformationsprozess des Herstellers in Richtung Digitalisierung und eMobilität.
Volkswagen – Nur die Spitze des Eisbergs
Dabei erweist sich das ehemalige deutsche Flaggschiff Volkswagen nur als die Spitze des Eisberges: Bereits in den vergangenen Jahren hat eine alarmierende Zunahme von Firmenpleiten und Massenentlassungen die Stabilität der deutschen Industrie erschüttert. Große, einst renommierte Unternehmen sehen sich mit finanziellen Herausforderungen konfrontiert, die in nicht wenigen Fällen bereits zu Insolvenzen führten. Bis zum Ende des laufenden Jahres sollen zudem laut Schätzungen von Creditreform bis November 18.100 Unternehmen hierzulande den Gang zum Insolvenzgericht angetreten haben. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die betroffenen Unternehmen selbst, sondern auch auf die gesamte deutsche Wirtschaft und die dazugehörigen Arbeitsmärkte. VW bildet also nur ein Beispiel für ein viel größeres Problem. Markenchef Schäfer bringt die Situation der gesamten deutschen Industrie auf bereits erwähnter Versammlung auf den Punkt: „Es kann kein ‚Weiter so!‘ geben.“
Deutschland im globalen Kontext
Firmenpleiten und Massenentlassungen stellen in der Thematik Deindustrialisierung allerdings nur die Symptome dar. Als Ursache kristallisieren sich für viele Unternehmen die immer weiter sinkenden Gewinne bei gleichzeitiger Steigerung der Rohstoffpreise heraus. Dies lässt sich zu großen Teilen auf den zunehmenden internationalen Wettbewerb zurückführen. Länder mit niedrigeren Produktionskosten und aufstrebenden Industrien drängen auf den Markt und setzen deutsche Unternehmen unter Druck. China oder Indien setzen beispielsweise auf ein enormes industrielles Wachstum, um sich weiter als Weltmächte zu etablieren. Anders als etwa in Deutschland und teilweise auch in Österreich, ziehen industrielle Vertreter und Politik dort an einem Strang. Einschränkende Regulierungen reduzieren sich auf ein Minimum oder zielen explizit auf eine Maximierung des eigenen wirtschaftlichen Potenzials ab. Diese klare Ausrichtung der ehemaligen Entwicklungsländer – in Kombination mit dem selbst herbeigeführten Abfall der eigenen ökonomischen Stärke – beeinträchtigt die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Sie wirft aber auch die Frage auf: Wie kann der Wirtschaftsstandort mit dem größten BIP in Europa seine Position in einer sich wandelnden globalen Wirtschaft überhaupt noch behaupten?
Deindustrialisierung – Politik muss bessere Rahmenbedingungen schaffen
Angesichts dieser erheblichen Herausforderungen lässt sich ein tatenloses Zusehen insbesondere der Politik nicht länger rechtfertigen. Sie muss die Rahmenbedingungen schaffen, damit Deutschland trotz höherer Löhne als Wirtschaftsstandort attraktiv bleibt. Unternehmen brauchen verlässliche Zukunftsperspektiven für ihr Business, ein zukunftsfittes Steuersystem und eine ebensolche Verwaltung. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen (über 90 Prozent der deutschen Wirtschaft) sind im Wettbewerbskonzert gegenüber großen Unternehmen steuerlich insofern benachteiligt, weil sie kaum die Möglichkeiten haben, sich mithilfe von (legalen) Steuertricks Erleichterungen zu verschaffen. Wer kann sich schon eine Briefkastenfirma im Steuerparadies Luxembourg leisten? Auch können KMU selten in Billiglohnländer auslagern und haben somit mit ihrer Produktion auch hier mit Wettbewerbsnachteilen gegenüber Konzernen zu kämpfen. Gleichzeitig ist der Verwaltungsapparat in Deutschland bei Genehmigungen etwa bei Zukunftsinvestitionen bis hin zu Baugenehmigungen, Ansiedelungen etc. Viel zu schwerfällig.
Fünf Punkte zum Stopp der Deindustrialisierung
Aber es bedarf noch viel mehr, um die Deindustrialisierung in Deutschland einzudämmen und die Wirtschaft für den zukünftigen Wettbewerb wieder besser aufzustellen. Hier lassen sich insgesamt fünf Kernpunkte anführen; Förderung von Innovationen und Technologie, Fachkräfteentwicklung, Nachhaltigkeit und Umwelttechnologien, Internationale Zusammenarbeit und, last but not least, die Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen, KMU.
Förderung von Innovation und Technologie
Investitionen in Forschung und Entwicklung erweisen sich als entscheidend, um die Innovationskraft der deutschen Industrie wieder zu stärken. In der Förderung von High-Tech-Sektoren und bei der Integration modernster Technologien hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten massiv an Boden verloren. Technologieoffenheit und deren entsprechende Förderung kann die internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen.
Bildung und Fachkräfteentwicklung
Wie entscheidend eine qualifizierte Belegschaft für den Erfolg einer Industrie ist, merkt Deutschland erst jetzt, wo die besten Mitarbeiter ins rentablere Ausland wechseln. Mit der Förderung von Ausbildungsprogrammen, lebenslangem Lernen und der Anpassung der Bildungssysteme an moderne Anforderungen einer sich wandelnden Wirtschaft lässt sich dieser Rückstand aber schon mit der nächsten Arbeitergeneration wieder aufholen.
Nachhaltigkeit und Umwelttechnologien
Ganz egal wie eine Privatperson persönlich zum Thema Klimawandel steht: Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass in der Förderung nachhaltiger Praktiken und der Entwicklung von umweltfreundlichen Technologien enorme Potenziale stecken und für die etwas verstaubte deutsche Industrie ganz neue Geschäftsmöglichkeiten schaffen.
Internationale Zusammenarbeit
In einer globalisierten Welt lassen sich Kooperationen mit anderen Ländern nicht nur nicht vermeiden, sondern sind von entscheidender Bedeutung. Durch Partnerschaften und Handelsabkommen mit aufstrebenden Nationen kann Deutschland seine Position stärken. Bei der Auswahl dieser Bündnisse sollte der erste Blick nicht auf den moralischen und politischen Differenzen, sondern auf den erheblichen wirtschaftlichen Vorteilen liegen.
Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen
In Deutschland gilt der Mittelstand als das Rückgrat der gesamten Wirtschaft. KMUs erweisen sich zudem häufig als flexibler und können schneller auf Veränderungen reagieren. Durch gezielte Unterstützung und politische Erleichterungen für KMUs lässt sich die Vielfalt der deutschen Wirtschaft fördern und das angesprochene Rückgrat wieder stärken. Es gibt also viel zu tun.
Die Karten liegen offen auf dem Tisch
Es ist somit kein Adlerblick vonnöten, um die Deindustrialisierung Deutschlands zu erkennen. Doch trotz häufiger Meldungen über Firmenpleiten, Fachkräftemangel, Reformstau usw. scheinen viele nach wie vor die Augen zu verschließen und wollen keinen Zusammenhang dieser Fakten zur Deindustrialisierung Deutschlands erkennen. Insbesondere in der Politik scheinen sich die Parteien sämtlicher Couleur lieber in tagesaktuellem Hickhack und Kleingeldgeklimper zu ergehen. Doch wird diese prekäre Situation nicht einfach verschwinden, indem man sie genau dort wegignoriert. Eine gesunde Wirtschaft ist und bleibt nämlich das Herzstück der deutschen Gesellschaft. Erst ihre Stabilität erweist sich als entscheidend für das Wohlergehen der Bürger in Deutschland und nicht zuletzt in ganz Europa. Denn Europa kann sich ein deindustrialisiertes Deutschland nicht leisten. Es braucht somit gezielte Maßnahmen, die auf Innovation, Bildung, und Zusammenarbeit abzielen, damit Deutschland als ökonomisch stärkste Wirtschaft in der EU seinen Weg zu einer wirtschaftlichen Renaissance finden kann. Und das alles besser früher als später. Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert somit einen gemeinsamen Einsatz von Regierung, Industrie und der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Nur durch eine umfassende und koordinierte Anstrengung kann die ehemalige Industriemacht Deutschland die Position als die führende Wirtschaftsnationen der EU und als drittstärkste Ökonomie in der Welt erhalten und verlorenes Terrain wiedergutmachen. Es gilt, nicht nur die internationale Wettbewerbsfähigkeit, sondern so auch gleichzeitig und langfristig die Lebensqualität seiner Bürger sichern.
Dirk Kreuter in Kürze
Er gilt als einer der bekanntesten Verkaufstrainer, ist Speaker, Multi-Unternehmer und Bestseller-Autor. In den letzten 32 Jahren hat er sowohl DAX-Konzernen als auch kleinen und mittelständischen Unternehmen Millionenumsätze beschert. 2016 änderte er seinen Fokus und konzentriert sich seitdem auf offene Seminare. Zu seiner Zielgruppe gehören vor allem engagierte Unternehmer, die durch kontinuierliches Wachstum den nächsten Schritt zu Marktführern machen möchten. Veranstaltungen wie die Vertriebsoffensive oder der Unternehmer Endspurt ziehen regelmäßig Tausende begeisterte Zuschauer an. Innerhalb von fünf Jahren skalierte er sein Unternehmen von zehn Mitarbeitern und zwei Millionen Euro Jahresumsatz auf mehr als 150 Mitarbeiter und 80 Millionen Euro Auftragsvolumen. Dirk Kreuter ist Autor, Co-Autor und Mitherausgeber von über 30 Fachbüchern, DVDs, E-Books, Newslettern und Hörbüchern, die bereits in mehreren Ländern erschienen sind. Seine Biografie „Attacke! Mein Weg zum Erfolg“ ist ein Verkaufsschlager und erhielt das Prädikat „Spiegel-Bestseller“.
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