Russland-Krise – Im sogenannten „Westen“ fragt man sich, was der russische Präsident Wladimir Putin mit seinem brutalen Feldzug gegen ein demokratisches Land wie die Ukraine tatsächlich will. Um diesen souveränen Staat einfach nur in sein Imperium einzuverleiben erscheint das Risiko, das er damit geht, zu hoch zu sein. Es dürfte ihm bei seinem Vabanque-Spiel daher um weit mehr gehen: nämlich um die Zerschlagung der EU. Wollen wir das? Und welchen Preis ist uns der Erhalt von Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Wert?

Die Russland-Krise eskaliert. Der 24. Februar 2022 brachte den Krieg zurück nach Europa. An diesem Tag gab der russische Präsident um 5:30 Uhr morgens den Marschbefehl an seine Truppen, die Ukraine zu überfallen und zu unterwerfen. Es ist somit das erste Mal seit dem Beginn des 2. Weltkrieges am 1. September 1939, dass ein autoritärer Staat eine Demokratie in Europa völlig unbegründet mit einem Krieg überzieht. Zwar hat W. Putin in seiner Ansprache am 24. Februar öffentlich gemacht, warum er diesen Schritt geht, Russland in einen Krieg völlig ungewissen Ausgangs zu verwickeln. Doch diese Gründe dürften sich im Wesentlichen an die Russen selber und diejenigen richten, welche völlig unreflektiert bereit sind, dem Präsidenten der Russischen Föderation seinen Ausführungen zu glauben. In seiner Ansprache sprach er vom Schutz des „Russischen Volkes“, was immer das auch ist. Denn jeder weiß, dass Russland ein Vielvölkerstaat ist. Gleichzeitig wolle er einen Genozid an den Russen im Donbass verhindern, der angeblich schon seit acht Jahren im Gange ist. Und last but not least habe er den Kampf gegen die Neonazis in Kiew aufgenommen, die sich, unterstützt von den USA, der EU und der NATO, dort an die Macht geputscht hätten.
Russland-Krise – Drehbuch vom September 1939
Wer die Reden Hitlers zu Beginn des zweiten Weltkrieges im Ohr hat, fühlt sich bei der Rede W. Putins frappant daran erinnert. Und auch die Vorbereitungen zu diesem Krieg folgten letztlich demselben Drehbuch, das damals im Überfall auf Polen mündete. Jeder halbwegs aufmerksame Beobachter musste daher sofort erkennen, dass W. Putins Begründungen für den Überfall auf die Ukraine völlig an den Haaren herbeigezogen sind. Denn weder sitzen in Kiew Neonazis in der Regierung, sondern ein vom ukrainischen Parlament mehrheitlich eingesetzter Präsident mit seinen Ministern. Und die Zusammensetzung dieses Parlaments wurde in einer freien, demokratischen Wahl von den Ukrainer:innen ermittelt.
Ukraine – Ein Land auf dem Weg zur Rechtsstaatlichkeit
Zwar ist bekannt, dass das zweitgrößte Land Europas noch immer große Probleme mit Korruption hat, aber die Grundpfeiler von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind dort bereits im Boden verankert. Und darauf wollen die Menschen dort ihre Demokratie aufbauen. Ihr mehrheitliches Ziel: Teil der EU-Familie und Teil der NATO zu werden. Das hat jedoch nichts mit Faschismus zu tun und schon gar nichts mit Nationalsozialismus, es sei denn, man folgt der in der Politikwissenschaft bekannten, stalinistischen Faschismus-Definition. Jeder weiß, dass W. Putin Josef Stalin verehrt…
S. Lawrow and „his Masters Voice“
Wer heute die Pressekonferenz vom russischen Außenminister Sergei Lawrow zur Russland-Krise hörte, hörte exakt dieselben Vorwürfe. Begleitet wurde S. Lawrow von einer offiziellen Person aus dem Donbass, der den Genozid „bestätigte“ und sich für die Befreiung der angeblich demokratischen Republiken im Donbass durch einen Diktator bedankte (ein Widerspruch in sich!). Und auch die Person aus dem Donbass behauptete gegenüber Kiew, dort seien Neo-Nazis, die im Donbass seit acht Jahren einen Völkermord begehen.
Russland-Krise – W. Putins Popanz vom Schutz der Russen
So weit, so gut! Doch riskiert W. Putin in der von ihm herbeigeführten Russland-Krise das Wohl Russlands und die Soldaten der russischen Armee für ein paar Separatisten im Donbass und ein paar angebliche Neo-Nazis in Kiew? – Daran darf gezweifelt werden, insbesondere wenn man die anderen Feldzüge dieses Diktators in Tschtschenien, in Georgien und in Syrien sowie seine Bündnispolitik mit Herrn Erdogan, dem Mullah-Regime im Iran oder mit dem derzeit mächtigsten Diktator der Welt, Xi Linping verfolgt. Staatsterror und Völkermord sind Kategorien, denen sich W. Putin selbst bedient, wenn es seinen Zielen nützt. Und er setzt auch skrupellos Raketen und Bomben, bis hin zur Androhung von Atomwaffen gegen die ukrainische Bevölkerung ein, dem angeblichen „Brudervolk“. Der Schutz der Russen und Völkerfreundschaft sind also nicht die Sache des Herrn im Kreml.
W. Putin – Man muss genau zuhören
Doch was will W. Putin dann? Um das heraus zu bekommen, muss man diesem Diktator genau zuhören. Wenn man nämlich die Lesart Moskaus richtig interpretiert, liegt der Grund allen (neonazistischen) Übels in den USA, der NATO und dem Büttel der USA, die EU. Und die Ukraine ist nach Auffassung Putins ein Teil Russlands und die Ukrainer:innen somit nur ein von Neonazis verblendetes Brudervolk, das es zu befreien gilt.
Russland-Krise – Es geht um die Zerstörung
Die Konsequenz kann daher für W. Putin nur heißen, die EU, die er als von den USA verlottert, dekadent und verlebt betrachtet, zu zerstören, so, wie er die demokratische Ukraine derzeit zerstört. Letztendlich steckt also hinter der ideologisch-nationalistischen Argumentation des russischen Diktators zudem ein alt bekannter Antisemitismus, den Adolf Hitler als das „Finanzjudentum“ bezeichnete, das in den USA sitzt, das die Völker verdirbt und die daher gereinigt gehören. Der Liberalismus und seine Werte Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die W. Putin zutiefst verachtet, entspringen daher nach der Gesinnung, der W. Putin frönt und die Menschen in letzter Konsequenz zu Mördern macht, dem Judentum.
W. Putin ist ein erbitterter Gegner der USA, der NATO und der EU, weil diese ihn und seinen diktatorischen Machtanspruch sowie den seiner Eliten in Russland permanent infrage stellen.
W. Putin – Erbitterter Feind liberaler Werte
Die EU basiert auf den liberalen Werten Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ist somit in ihrem Kern anti-elitär. Das ist alles nachzulesen im Vertrag von Lissabon, der einen für die Staaten der EU verpflichtenden und einklagbaren Grundrechtskatalog beinhaltet und eine Kompromissformel für die bereits ausgearbeitete aber nicht ratifizierte EU-Verfassung ist. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was W. Putin und seine Eliten eint: der Kampf gegen anti-elitäre Strömungen in Russland und der Welt. Sie wollen das Streben und Handeln nach einem liberalen Wertekompass verhindern. Ihnen ist das Versprechen liberaler Demokratien von (Chancen-) Gleichheit ein Dorn im Fleisch. Und sie sind erbitterte Gegner der in der Präambel des Montanvertrages (die Basis der EU) festgeschriebene Kampfs Europas gegen den Nationalismus, der im Laufe der Zeit durch den Kampf gegen Rassismus ergänzt wurde. Nicht Grundlos haben die Gründer:innen der europäischen Integration und der EU stets vom Europa der Völker und nicht der Nationen gesprochen…
Russland-Krise – W. Putin will den direkten Zugriff auf die EU
W. Putin ist vor diesem Hintergrund ein erbitterter Gegner der USA, der NATO und der EU, weil diese ihn und seinen diktatorischen Machtanspruch sowie den seiner Eliten in Russland permanent infrage stellen. Ein Land wie die Ukraine ist daher ein Land, dessen Streben nach Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ihn ebenfalls infrage stellt. Da aber die Ukraine auf Dauer weder die Chance hat, der EU noch der NATO beizutreten, wäre dieses Land ein wichtiger Puffer zwischen seinem Imperium und der liberalen Welt, welches seinem direkten Zugriff auf die EU und der NATO letztlich im Wege steht. Und diese Ukraine nimmt, gefördert von den USA, der ‚EU und den NATO-Staaten (lt. Putin lauter Faschisten) an Potenz zu. Darum will er eine liberale, freie, demokratische und rechtsstaatliche Ukraine verhindern.
Die Frage ist, was uns die liberalen Werte Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Wert sind? Und die Frage ist, ob wir dafür auch einen hohen Preis zu zahlen bereit sind.
Eine Diktatur in direkter Nachbarschaft. Darum will W. Putin die Ukraine erobern und daraus entweder einen Vasallenstaat machen oder ganz der russischen Föderation einverleiben. Denn erst damit rückt das autoritäre Russland, rückt der Diktator und Imperialist W. Putin direkt an die Grenzen der EU heran. Das hätte im wahrsten Sinne des Wortes gewaltige Konsequenzen für die Gemeinschaft. Gelingt ihm der Coup der Annexion der Ukraine, kann W. Putin unmittelbaren Einfluss auf Spalter der EU nehmen wie V. Orban und andere (faschistische) Personen wie Le Pen sowie faschistische Parteien wie die AfD, die FPÖ mit Kickl etc. Er kann zudem mit ständigen Störaktionen entlang der Tausende Kilometer langen Außengrenze der EU die Gemeinschaft so lange schwächen, bis sie auseinanderbricht.
Ein Wirtschaftsraum unter Moskaus Gnaden
Das ist meine persönliche Analyse. 2010 sprach W. Putin von „einem Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok“. Was er in seinem Plädoyer aber nicht aussprach ist, dass er diesen Wirtschaftsraum von Moskau aus zu bestimmen gedenkt (siehe hier das Plädoyer W. Putins in der Süddeutschen Zeitung). W. Putin geht es also letztlich um die (gewaltsame) Einigung Europas unter seiner bzw. Moskaus Herrschaft. Und die Ukraine ist erst der Anfang.
Was wollen wir?
Die Frage ist, ob wir diese Zerschlagung akzeptieren wollen? Die Frage ist, was uns die liberalen Werte Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Wert sind? Und die Frage ist, ob wir dafür auch einen hohen Preis zu zahlen bereit sind – und zwar nicht nur ökonomisch, sondern im Zweifelsfall auch mit Menschenleben, d.h. Soldaten aus den Mitgliedsstaaten der EU und der NATO?
Ein Vabanque-Spieler im Kreml. Fakt ist: W. Putin ist bereit, für seine Macht und sein Imperium die russische Ökonomie und das Leben russischer Soldaten zu opfern. Und die Russen sind bereit, diese Opfer zu erbringen – zu einem größeren Teil unter Zwang. Wir dürfen jedoch nicht davon ausgehen, dass die nationalistisch aufgeheizten Menschen Russlands, deren Leidensfähigkeit seit mehr als 100 Jahren erprobt ist, W. Putin nicht folgen. Vor allem dann, wenn „ihr Präsident“ erfolgreich ist, werden sie sich hinter diesen stellen.
Wir sollten nicht mitspielen. W. Putin stellt mit seinem Feldzug gegen die demokratische Ukraine alles infrage, wofür Millionen Menschen in zwei Weltkriegen gestorben sind, wofür Millionen Menschen gelitten haben. Und er will zerstören, wofür Millionen Menschen die letzten 73 Jahre hart gearbeitet haben und wofür sie alle den Friedens-Nobelpreis bekamen: ein einiges und freies Europa, deren Menschen in Wohlstand leben und deren Kinder eine behütete Zukunft haben. Wir sollten das nicht aus Bequemlichkeit auf seinem Altar des Nationalismus opfern. Auf diesem Altar wurden alleine zwischen 1939 bis 1945 60 Millionen Menschen geopfert. W. Putin wird noch mehr opfern wollen, wenn wir das zulassen. Wir sollten uns daher ihm in den Weg stellen, solange es noch geht.
Herzlichst,
Ihr HaJo Schlobach
(Herausgeber blogistic.net)
Weiterführende Links
Das Plädoyer in der Süddeutschen Zeitung wurde noch im selben Jahr in der Euromaidan Press, einem Ukrainischen Online-Magazin, im Mai 2015 analysiert, also ein Jahr nach der Übersetzung der Krim (hier klicken. Der Site-Aufbau dauert etwas länger).
Für Interessenten: Die Rede Wladimir Putins am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag (hier klicken).