
Die große Molkerei ELSA in der Schweiz modernisierte jüngst ihre Intralogistik, um auch künftig schnell und effizient frische Milchprodukte ausliefern zu können. Es galt, die Altanlage mit Fahrerlosen Transportsystemen (FTS) bei laufendem Betrieb auszutauschen. Dies erfolgte nach einem ausgeklügelten Plan. Dennoch: Das Retrofitting solcher Systeme ist wie ein Eingriff am offenen Herzen. Ein Bericht von Wolfgang Degenhard
Es ist unbestritten: Milch ist die erste Nahrung für den Menschen und alle Säugetiere. Muttermilch hat deshalb eine ideale Zusammensetzung für die erste Lebensphase. Auch später sind Milch und Milchprodukte wichtige Grundnahrungsmittel. Aber die Milchproduzenten und die weiterverarbeitenden Unternehmen stehen unter Druck, denn der Markt ist geprägt von sinkenden Milchpreisen und steigender Produktionsmenge. Auch in der Schweiz. Hier hat die Milchwirtschaft eine jahrhundertealte Tradition. Das Wissen um die Pflege und den Erhalt von Weideland, die Tierhaltung und die Milchverarbeitung sind die Gründe für die hohe Qualität der Milch und Milchprodukte.
369 kg Milch pro Kopf und Jahr. Im Jahr 2016 wurden in der Schweiz laut der Organisation Schweizer Milchproduzenten (SMP) pro Kopf 369 kg Milch und Milchprodukte konsumiert. Einer der Produzenten ist die Gruppe ELSA-Mifroma. Sie ist spezialisiert auf die Herstellung und Verpackung von Milchprodukten und die Herstellung, Veredelung und Verpackung von Käse. ELSA-Mifroma gehört zur M-Industrie, eine Vertriebsplattform für Lebensmittel. Die zur Schweizer Migros-Gruppe gehörende M-Industrie produziert mit ihren 23 Schweizer Unternehmen und den sieben ausländischen Betrieben über 20.000 hochwertige Food- und Non-Food-Produkte. Das sind eine Million Tonnen Produkte jährlich. Damit ist die M-Industrie einer der größten Eigenmarkenproduzenten weltweit.
Molkerei mit mutiger Unternehmenskultur
Eines der Unternehmen der ELSA-Mifroma ist die Estavayer Lait SA, kurz ELSA, mit Sitz im historischen Städtchen Estavayer-le-Lac im Kanton Freiburg am Neuenburgersee. Das 1955 gegründete Unternehmen ist die größte Molkerei der Schweiz an einem einzigen Standort. Der hohe Automatisierungsgrad erlaubt ELSA, ein breit gefächertes Sortiment anzubieten, das höchsten Hygiene- und Qualitätsansprüchen genügt. Die Produktpalette umfasst unter anderem Milch, Rahm, Joghurts, Frischkäse, Quark und Desserts auf Milchbasis. Jeden Tag verarbeitet die Molkerei bis 750.000 Liter Milch. Dazu liefern bis 40 Kühl-LKW täglich den wertvollen Ausgangsstoff aus der ganzen Schweiz an. Für das Unternehmen arbeiten 601 Mitarbeiter, die mit 626 Artikeln für eine Jahresproduktion von 263.101 Tonnen sorgen und einen Umsatz von 583,6 Millionen CHF erwirtschaften. Alle Angaben beziehen sich auf 2016.

Frühzeitig fahrerlose Milchproduktion. Besonderes Augenmerk legt man bei ELSA auf die Entwicklung einer mutigen Unternehmenskultur und auf Weitsicht in Sachen Marktveränderungen und Markttrends. Daher wurden die Produktionsbetriebe frühzeitig optimiert und automatisiert, um starke Nachfragen rasch bewältigen und in Zukunft wirtschaftlich arbeiten zu können. Ein gutes Beispiel dafür war die Installation von fahrerlosen Fahrzeugen mit Induktivführung, die das Unternehmen schon 1981 vornahm.
Wir konnten nicht einfach einige alte Fahrzeuge aus der Anlage nehmen und zum Umbau nach Deutschland schicken. Pierre-Alain Bigler, Leiter der Automationsprojekte Logistik, ELSA in Estavayer-le-Lac
Dauerbelastung führt zu Retrofitting
Als es jüngst notwendig wurde, ein altes Fahrerloses Transportsystem (FTS) der Firma Eisenmann zum Transport von Paletten mit Molkereiprodukten, das in den Jahren 2001 bis 2005 installiert wurde, zu ersetzen, wurde die MLR System aus Ludwigsburg, damit beauftragt, die Anlage in wesentlichen Teilen zu erneuern. Die in der Anlage betriebenen Fahrerlosen Transportfahrzeuge (FTF), die täglich rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche und an 365 Tagen im Jahr ihre Arbeit verrichten, waren hinsichtlich des Navigations-, Steuerungs- und Kommunikationssystems veraltet. Ersatzteile waren zum größten Teil gar nicht und zu einem kleineren Teil nur mit erheblich langen Lieferzeiten und extrem hohen Kosten am Beschaffungsmarkt verfügbar.

FTS für Standard-Jobs. Aufgabe der automatischen Fahrzeuge ist es, per Bahn eingehendes Leergut – Kunststoffbehälter und Rollpaletten, die sich ausschließlich auf Europaletten befinden und nur Migros-intern genutzt werden – aufzunehmen und zu den rund 50 Abfülllinien zu bringen. Dort erfolgen die komplett vollautomatische Depalettierung, Befüllung, Verpackung und erneute Palettierung. Den Abtransport der Waren übernehmen wieder die FTF. Nach einem kurzen Lageraufenthalt gelangen die Produkte dann schnell und frisch zu 40 Prozent über die Schiene und zu 60 Prozent auf der Straße zu den Vertriebsplattformen.
Selbständiger Palettentransport. Die fahrerlosen Fahrzeuge sind jeweils mit zwei hintereinander, quer zur Fahrtrichtung angeordneten Kettenförderern ausgestattet, mit denen sie die an den 600 mm hohen Förderstrecken bereitgestellten Paletten selbstständig abgeben und aufnehmen. Die Lastwechsel werden von den FTF direkt mit der Fördertechniksteuerung über eine Datenlichtschranke synchronisiert. Das FTS-Leitsystem ist dabei unbeteiligt. Um diese 50 Übernahmestationen mit jeweils einem Abholplatz für Paletten mit Leergut und die 27 Übergabestationen mit jeweils einem Anlieferplatz für Paletten mit verpackter Ware bedienen zu können, sind bei ELSA 17 Fahrzeuge im Einsatz. Die flächenbeweglichen Sechsrad-Sonderfahrzeuge vom Typ Phoenix K-2,0 Lr sind 3.940 mm lang, 1.075 mm breit und 2.479 mm hoch und haben vorn und hinten je eine Fahr- und Lenkeinheit. Damit lassen sich auch in engen Umgebungen Quer- und Diagonalbewegungen durchführen. Jedes Fahrzeug, das mit Batterie etwas mehr als zwei Tonnen auf die Waage bringt, kann 2 x 1.000 kg tragen. Die Anlage ist so konzipiert, dass pro Stunde bis zu 300 Transporte durchgeführt werden können.
Retrofitting: Operation am offenen Herzen
„Beim Retrofitting, d.h. der Modernisierung unseres FTS mussten wir eine ganz bestimmte Reihenfolge einhalten“, erklärt Pierre-Alain Bigler, in Estavayer-le-Lac der Leiter der Automationsprojekte im Bereich Logistik. „Der erste Grund: Wir konnten nicht einfach einige alte Fahrzeuge aus der Anlage nehmen und zum Umbau nach Deutschland schicken. Dann nämlich hätte das FTS als Herzstück der Intralogistik die erforderliche Leistung nicht mehr erbracht, und es wäre zu temporärem Stillstand bei der Produktion und damit zu Verzögerungen bei der Auslieferung gekommen.“ Daher lieferte MLR zusätzlich zu den 17 bisherigen Geräten zwei baugleiche Neufahrzeuge für die Anlage, um Transportengpässe bei der Entnahme von Altgeräten zu unterbinden. Pierre-Alain Bigler: „Beim Nachbau der beiden Fahrzeuge zeigte sich die Firma Eisenmann, die heute keine FTS mehr liefert, äußerst kooperativ.“
Der zweite Grund: Der alte Leitrechner auf Basis einer Speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) von Siemens wäre nicht in der Lage gewesen, die modernisierten FTF zu steuern. So wurde beschlossen, in einer ersten Bauphase die SPS durch ein neues, intelligentes Transportleitsystem zu ersetzen. Dabei handelt es sich um die Leitrechnersoftware MLR-LogOS-FTS neuester Generation auf PC-Basis, die in der Lage ist, auch die alten Eisenmann-Fahrzeuge zu steuern und zu verwalten, „ein Umstand, der uns sehr gut gefallen hat“, so Pierre-Alain Bigler.
Wird ein umgerüstetes FTF morgens um 8 Uhr angeliefert, arbeitet es bereits gegen 12 Uhr im System mit. Pierre-Alain Bigler, Leiter der Automationsprojekte Logistik, ELSA in Estavayer-le-Lac
Priorität „Hochverfügbarkeit“. Die umgerüsteten FTF sind mittels WLAN an das Leitsystem LogOS angebunden. Es stellte sich heraus, dass LogOS die alten Geräte intelligenter disponierte, in dem zum Beispiel weniger Leerfahrten auftraten und – dank besserer Nutzung der zwei Lastaufnahmemittel auf den FTF – mehr Doppelspiele gefahren werden konnten. Durch diese Leistungssteigerung konnte ELSA auf Anhieb auf drei Alt-FTF gleichzeitig verzichten und sie zum Modernisieren freigeben. Der SPS-Leitrechner blieb zunächst aus Redundanzgründen erhalten, um bei der Inbetriebnahme des LogOS-Systems, die üblicherweise mit Unterbrechungen einhergeht, auf ihn zurückschalten zu können. Schließlich hat die hohe Verfügbarkeit des FTS höchste Priorität. Sobald der MLR-Leitrechner stabil arbeitete, wurden die beiden Nachbau-Geräte in die Anlage integriert, um auf dem gleichen, 1.366 Meter langen Parcours mitzuarbeiten.
Umbau nach genauem Plan. Derzeit gibt es bei ELSA einen Mischbetrieb. Das heißt: Alte und modernisierte fahrerlose Fahrzeuge fahren gemeinsam. Immer dann, wenn ein erneuertes Fahrzeug in die Schweiz geliefert wird, nimmt der Spediteur ein altes Fahrzeug zum Umbau mit nach Deutschland. Das geschieht etwa alle drei Wochen. „Wird ein umgerüstetes FTF morgens um 8 Uhr angeliefert, arbeitet es bereits gegen 12 Uhr im System mit“, freut sich Pierre-Alain Bigler. Das Reengineering und die Inbetriebnahme eines Gerätes dauern rund neun Wochen. Dazu werden die mechanischen, elektrischen und elektronischen Komponenten demontiert und geprüft sowie die Antriebseinheiten mit Reglern, Lasernavigation und Fahrzeugrechner neu aufgebaut.
Retrofitting: Modernes Energiekonzept

Ein wesentliches Merkmal der auf den neuesten Stand der Technik gebrachten FTF ist das moderne Energiekonzept. Pierre-Alain Bigler: „Bislang waren die alten Fahrzeuge mit Bleibatterien bestückt. Das automatische Laden dieser Energieträger war ein Prozess, der acht Stunden dauerte. Waren alle Plätze zum Batterieladen besetzt, kamen Wechselbatterien zum Einsatz.“ Die Retrofit-Fahrzeuge haben hingegen eine Lithium-Ionen-Batterie an Bord. Diese sind schnellladefähig, verbleiben im Fahrzeug und werden über Deckenkontakte von sechs Ladegeräten automatisch geladen.
Darüber hinaus haben sie ein geringeres Gewicht, können zwischenzeitlich nachgeladen werden, haben sehr kurze Ladezeiten von nur etwa zwei Stunden und eine lange Lebensdauer. „Die oben liegenden Ladekontakte haben den Vorteil, dass sie nicht nur weniger Platz einnehmen, sondern auch sicherer sind als seitlich oder im Boden angeordnete Kontakte“, verdeutlicht Pierre-Alain Bigler. Dank des neuen Energiekonzepts wird den Mitarbeitern nicht nur der manuelle Batteriewechsel erspart. Es führt auch durch die deutlich verringerte Ladezeit zu einer Leistungssteigerung der Anlage. Der Umbau des Fahrerlosen Transportsystems, der einem Eingriff „am offenen Herzen“ gleicht, wird Ende 2017/Anfang 2018 abgeschlossen sein. Pierre-Alain Bigler betont: „Bisher gab es weder bei dem Leitsystem noch bei den Retrofit-Geräten eine Panne, also auch keine Produktionsstörung. Wohl auch deshalb wurde das neue System vom Betrieb gut angenommen.“