
Das beim Dematic-Vorläufer Demag entwickelte automatisierte Regalbediengerät (RBG) hat wichtige Türen aufgestoßen zum modernen Hochregallager. Das erste seiner Art ging 1962 bei Bertelsmann in Betrieb. Es wurde Vorbild für Generationen in der Lagertechnik.
Das Regalbediengerät (RBG) ist heute faktisch jedem bekannt, der mit innerbetrieblichen Materialflüssen zu tun hat. Und nahezu jeder Intralogistiker hat es schon einmal irgendwo in Aktion gesehen und war fasziniert von der Dynamik, welche RBG entfalten können. Doch nach mehr als 55 Jahren, als das erste dieser Geräte in Echtbetrieb ging, wissen sehr viele nicht mehr, wer der bzw. die Erfinder dieser Innovation sind.
Drei Ingenieure auf Lösungssuche
Es waren Friedhelm Podswyna, Horst-Werner Ruttkamp und Werner Kühn. Sie arbeiteten in den 1950ern für Demag, ein Vorgängerunternehmen der heutigen Dematic, und setzten sich zum Ziel, die Bedienung von Regalen völlig neu zu überdenken. Was dabei heraus kam, stellte die damalige Arbeit in Lägern buchstäblich auf den Kopf und ermöglichte das deutsche Wirtschaftswunder mit. Auch damals litt die deutsche Wirtschaft unter dem Mangel an Arbeitskräften, die auch nicht durch Zuwanderung in den Griff bekommen werden konnte. In den 1950er-Jahren bestimmten noch immer viel menschliche Handarbeiten, Gabel- und Schubmaststapler und in Bodennähe auch Fördertechnik das Bild. Gleichzeitig mussten vor allem schwerere Teile ebenerdig gelagert werden. Folglich brauchten umfangreichere Lager noch immer viel Platz. Einer weiteren Verdichtung der Regale waren somit auch statische Grenzen gesetzt. An eine bedarfsgerechte Steuerung von Materialfluss und Kommissionierung war zudem kaum zu denken.
Regalbediengerät: Am Anfang stand der Mast

Um diese Herausforderungen zu bewältigen, hatten die damaligen Ingenieure eine Idee: Sie stellten dreh- und fahrbare Masten in jede Regalgasse, an denen die Lastaufnahmegeräte nach oben und unten gefahren wurden. Am Anfang waren sie noch mit der Decke und mit Schienen oben am Regal verbunden. Bald aber standen, fuhren und drehten sie sich sicher auf dem Boden. Sie waren so weitaus stabiler und wie nebenbei ließen sich jetzt viel mehr einzelne Gassen auch deutlich schneller, häufiger und gezielter ansteuern.
Papier ist schwer
Damit war nicht nur das Tor zur Automatisierung der Regalbedienung aufgestoßen, sondern der Grundstein für unzählige Entwicklungen in der Lagertechnologie gelegt. Als das erste Regalbediengerät dieser neuen Art 1962 in ein Buchklub-Lager bei Bertelsmann in Gütersloh eingebaut wurde, konnte es noch manuell von einer Kabine am Mast gesteuert werden. Es war aber auch schon automatisiert über Lochkarten-Steuerung bedienbar. Die Innovation traf den Nerv einer Zeit der verstärkten Rationalisierung.
Das Ende des Wirtschaftswunders

Das Wirtschaftswunder, in Frankreich als Trente Glorieuses („dreißig glorreiche Jahre“), in Spanien als Milagro español („spanisches Wunder“) oder in Italien als Miracolo economico italiano („Italienisches Wirtschaftswunder“) genannt, brachte den Massenkonsum, der letztlich auch zur weltweiten Verteuerung von Energie, zunehmendem Platzmangel in urbanen und industriellen Zentren, steigende Löhne und wachsende Qualitätsansprüche an die Produkte. Der Schock kam dann 1973 während der Ölkrise. Sie läutete das Ende des Wirtschaftswunders ein. Die Wachstumsraten sanken dramatisch von zuvor vier Prozent jährlich auf 1,7 Prozent oder weniger pro Jahr. Wirksame Kosteneinsparungen und effiziente Technologien waren daher umso mehr gefragt.
Vom Regalbediengerät zum 45 Meter Hochregallager
Die nachhaltige Wirkung dieser Entwicklung konnte man in den 1980er- Jahren deutlich beobachten: Überall schossen die Hochregallager wie Pilze aus dem Boden und wuchsen alsbald auf die noch heute geltende „Schallmauer“ von 45 Metern an. Es gab jedoch auch Umwege und heute bisweilen kurios wirkende Zwischenschritte der Entwicklung, die Wendelrutsche etwa, aber auch kurvengängige RBG, die von einer in andere Gassen wechselten. In den 1980er- und 1990er-Jahren kamen außerdem Computer- und IT-Technologie hinzu und damit Softwaregesteuerte Lager-Technologien. Sensoren, Magnet- und Lasertechnik ermöglichten Distanzmessgeräte für viel genauere Positionierungen. Stufenlose Antriebs-systeme brauchten weniger Energie und neue Lastaufnahmegeräte kamen tiefer in Regale und ermöglichten unterschiedliche Behälter und Paletten-Systeme.
RBG: Totgesagte leben länger

Obgleich nach dem Aufkommen der Shuttle-Technologien von vielen totgesagt, gelten RBG heute noch immer als ein Grundbestandteil komplexer Logistikanlagen. Sie bieten die im Zusammenspiel mit weiteren Produkt- und Softwarelösungen vielfach ein hochdynamisches Gesamtkonzept – auch bei Dematic. Die Kundenliste dafür liest sich dort wie das „Who is who“ der deutschen und internationalen Industrie. Das unterstreicht die Bedeutung der RBG-Erfindung in der heutigen Zeit. Jede einzelne Anlage wurde dabei mit den Kunden auf deren Bedürfnisse abgestimmt und so auch das gesamte Konzept immer weiter entwickelt. Ein Großteil der damaligen Kunden und deren Anlagen werden auch heute noch von der Dematic Services betreut.
Entwicklung nicht abgeschlossen
Die Entwicklung der RBG ist jedoch nicht abgeschlossen: Energieeffizienz und Energierückgewinnung spielen dabei eine treibende Rolle. Heutige RBG kommen ohne ein Software-gesteuertes zeitversetztes Anfahren, das Energiespitzen vermeidet, nicht mehr aus. Ebenso machen erst Leichtbauweisen, die Pendeldämpfung, wie auch das der Fahrstuhl-Technik entlehnte Zugband, statt der sich viel schneller abnutzenden Kette die Geräte zukunftsfit. Dabei ist das Prinzip, das Gerät zur Bedienung des Regals von der Hallendecke auf den Boden zu stellen, nach wie vor das der damaligen Konstrukteure. Sie ist aber darum eine wohl im Wortsinn bodenständige Erfindung gewesen, die bis heute nichts an innovativer Kraft verloren hat.
