Das Thema „Industrie 4.0“ ist für viele Unternehmen an und für sich ein alter Hut. Geht es hierbei doch im Wesentlichen um die Verbesserung von Prozessketten und Supply Chains. Aktualität bekommt es jedoch wieder, weil damit der Fokus weg von der virtuellen Wertschöpfung der Finanzwirtschaft hin auf die reale Wertschöpfung in Unternehmen gelegt wird. (Ein Bericht von CR Hans-Joachim Schlobach)

Die vernetzte Produktion und das Internet der Dinge – oder populär ausgedrückt „Industrie 4.0“ – ist derzeit das bestimmende Thema in der Wirtschaft. Dabei wird unter dem Begriff Industrie 4.0 die durch das Internet getriebene vierte industrielle Revolution verstanden. Weniger euphorische Analysten sehen hingegen in Industrie 4.0 einen beschleunigten Evolutionsprozess der Wirtschaft. Ob so oder so: Der Terminus umschreibt auf jeden Fall den technologischen Wandel heutiger Produktionstechniken zur intelligenten Fabrik, in der Maschinen und Produkte untereinander vernetzt sind und der Mensch als Kreativfaktor eine entscheidende Rolle spielt. Möglich wird diese „Revolution“ vor allem durch die rasanten Entwicklungen im IT-Bereich, die zu immer leistungsfähigeren Rechensystemen und die dafür notwendigen Bandbreiten führen. Doch war die IT in Unternehmen bislang eher eine Spielwiese für Computerfreaks, ist sie mittlerweile zu einem strategischen Element für die Chefetagen geworden.
Chefsache Digitalisierung
Daher kommt es nicht von ungefähr, dass, wenn es um die Digitalisierung der Produktion geht, mittlerweile die Chefs die Zügel in der Hand halten: In fast acht von zehn Unternehmen (77 Prozent), die Industrie 4.0-Anwendungen nutzen, kümmern sich heute maßgeblich vor allem Geschäftsführung oder Vorstände um das Thema. Das geht aus einer Umfrage im Auftrag des deutschen Digitalverbands Bitkom aus dem Jahr 2015 hervor, die jüngst veröffentlicht wurde. Dafür wurden 400 Unternehmen ab 100 Mitarbeitern aus der Automobilbranche, dem Maschinenbau, der chemischen Industrie und der Elektroindustrie jeweils repräsentativ befragt. Vier von zehn Unternehmen (44 Prozent) nutzen derzeit bereits Industrie 4.0-Anwendungen.
Priorität „Digitalisierung“: „Die Digitalisierung der Produktion muss oberste Priorität haben, wenn Unternehmen auch künftig international bestehen wollen“, sagt Dr. Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer von Bitkom gegenüber den Medien. „Dabei geht es nicht nur darum, bestehende Produkte oder Prozessketten durch den Einsatz digitaler Technologien zu verbessern. Industrie 4.0 bietet die Chance, völlig neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und hat somit große strategische Bedeutung für ein Unternehmen. Deshalb ist es unerlässlich, das Thema auf Führungsebene anzusiedeln.“ In rund 12 Prozent der Anwenderbetriebe ist eine bestimmte Abteilung maßgeblich für Industrie 4.0 verantwortlich, in sieben Prozent ist es lediglich ein einzelner Mitarbeiter, in vier Prozent der Fälle gibt es ein eigenes Industrie 4.0-Team, das sich maßgeblich um das Thema kümmert.
Zurückhaltung in Österreich. Österreichs Wirtschaft ist bei diesem Thema hingegen wesentlich zurückhaltender. Für sein „Trendbarometer“ befragte Festo rund 200 heimische Industriebetriebe. 55 Prozent davon konnten noch nicht einmal mit dem Begriff Industrie 4.0 etwas anfangen. Bei der derzeit sehr dynamischen Entwicklung in diesem Bereich laufen daher hiesige Unternehmen Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten, warnen Analysten.
Investitionsfokus verändert
Dabei geht es jedoch nicht um die Digitalisierung alleine. Vielmehr steht die Optimierung der Prozesse und Prozessketten in der gesamten Wertschöpfungskette im Fokus, und zwar von der Rohstofferzeugung bis zum Endverbraucher. Kenner begrüßen daher in Industrie 4.0 genau das Thema, welches die Aufmerksamkeit der Unternehmensspitze weg von der virtuellen Wertschöpfung im Finanzsektor endlich zur realen Wertschöpfung in der Produktion lenkt. Industrie 4.0 setzt somit Investitionsgelder für die Produktion und deren Prozesse frei, die vorher in unproduktive Bereiche ohne reale Wertschöpfung flossen mit dem Ziel der verbesserten regionalen und globalen Wettbewerbsfähigkeit und der Standortsicherung in Hochlohnländern.
Die Digitalisierung der Produktion muss oberste Priorität haben, wenn Unternehmen auch künftig international bestehen wollen. “ Dr. Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer Bitkom
Optimierung ist Alltag
Doch ist das Prinzip der Optimierung von Prozessen auf der Basis der Digitalisierung nichts Neues. „Damit, was jetzt unter dem Label Industrie 4.0 einen wahren Hype erlebt, beschäftigen wir uns schon seit mehr als 15 Jahren“, sagt Dr. Ralph Gallob im Gespräch mit BUSINESS+LOGISTIC/blogistic.net. Er ist Geschäftsführer der Industrie-Logistik-Linz, einem führenden Industrielogistiker in Österreich. Sein Unternehmen, des¬sen größter Kunde die Linzer voestalpine Stahl ist, steuert beispielsweise für die Stahlkocher die logistischen Abläufe der Belieferung von deren Kunden etwa mit Stahl-Coils bis an deren Produktionsstraßen. Hierfür integriert sich die ILL bei Bedarf einerseits in die Supply Chains der voestalpine-Kunden bzw. deren Lieferanten, integriert dabei wiederum aber auch selbst externe Logistikdienstleister wie Reeder oder Spediteure in die Supply Chain der ILL.
Optimieren, flexibilisieren, harmonisieren. Dabei findet die Optimierung beispielsweise der Transportketten durchaus integrativ statt, wie das von diversen Frachtenbörsen bekannt ist. Hier können sich sogar kleine Frächter einloggen und sich so in Transportketten der Industrie und des Handels integrieren. Der Unterschied dabei ist nur, dass diese Prozesssteuerung eine Eigenentwicklung der ILL ist, die auch permanent mit externen Partnern weiterentwickelt wird, so, wie andere Softwaresysteme des Unternehmens, die für die Prozessoptimierung in anderen Bereichen verwendet werden. „Das Ziel solcher Integrationsprozesse war und ist dabei nicht nur primär die Reduktion von Logistikkosten, sondern die Optimierung von Prozessen durch straffere Logistikketten und eine Flexibilisierung des Systems“, nennt R. Gallob die strategische Zielsetzung der ILL. Gleichzeitig soll die gesamte Wertschöpfungskette so harmonisiert werden, dass sie mit dem geringstmöglichen Ressourcenaufwand betrieben werden kann. Auf diese Weise sollen die Standortnachteile, welche etwa Österreich beispielsweise aus den hohen Lohnnebenkosten erwachsen, ausgeglichen werden. „Das sichert nicht nur die Produktionsstandorte in Österreich, sondern garantiert auch in Zukunft, dass kein weiteres Know-how in andere Regionen abzieht. Mit anderen Worten: Wir halten die Qualität in Österreich und können auf dieser Basis weitere Qualitätsverbesserungen erzielen“, zieht R. Gallob einige Konsequenzen aus dieser Strategie.
Diskussion um (R-)Evolution
Freilich: Ganz ohne negative Konsequenzen bleibt die Arbeit an der Digitalisierung und Optimierung der Produktion nicht. So baute der „Cheflogistiker ILL“ R. Gallob in der Vergangenheit über 50 Mitarbeiter ab, welche im Unternehmen Aufgaben wie etwa Routenplanung, Disposition, usw. durchführten, also Tätigkeiten, welche ins klassische Betätigungsfeld von Speditionskaufleuten fallen. „Da es sich dabei jedoch um einen längerfristigen Entwicklungsprozess handelte, der sich über eineinhalb Jahrzehnte hinzog, konnte der Stellen-abbau in diesem Bereich entweder über natürliche Mitarbeiterabgänge oder durch Umschulungen und dergleichen sozial verträglich bewältigt werden“, freut sich der Top-Manager.
Proaktiv gestalten. Für R. Gallob ist damit die Entwicklung jedoch noch lange nicht abgeschlossen. „Die Wirtschaft befindet sich in einem dauerhaft evolutionären Anpassungsprozess, den es eigentlich schon immer gab. Dieser nimmt jedoch an Dynamik zu. Die Treiber sind dabei vor allem die Globalisierung und die Entwicklungen in der IT“, prognostiziert der erfahrene Firmenchef gegenüber BUSINESS+LOGISTIC/blogistic.net und erklärt weiter: „Im Rahmen dieser Entwicklung werden daher sehr wahrscheinlich einige Berufszweige auf der Strecke bleiben.“ So könnte beispielsweise der Beruf „Speditionskaufmann“, wie er heute noch erlernt wird, bereits in zehn Jahren Geschichte sein. Andererseits würden gleichzeitig ganz neue Berufsgruppen entstehen, von denen man sich heute noch gar keine Vorstellungen machen könne. „Oder haben Sie vor 20 Jahren an Tele-Chirurgen oder Verkehrsanalysten gedacht?“, fragt er herausfordernd. Wesentlich sei daher, nicht passiv und reaktiv zu agieren, sondern die Zukunft proaktiv mitzugestalten, so. R. Gallob abschließend.
Infokasten „Industrielle (R-)Evolutionen“
Die erste industrielle Revolution fand Ende des 18. Jahrhunderts statt. Wasser- und Dampfkraft machten damals erste mechanische Produktionsanlagen möglich. Die zweite industrielle Revolution folgte um 1900: Elektrische Energie erlaubte nun das Entstehen einer arbeitsteiligen Massenproduktion. Die dritte industrielle Revolution brachte ab 1969 den nächsten Automatisierungsschub mit Elektronik und IT. Als vierte industrielle Revolution (Industrie 4.0) wird heute die vernetzte, hoch flexible, sich selbst adaptierende Produktion bezeichnet. Ziel ist die intelligente, wandlungsfähige, ressourceneffiziente Fabrik, auch Smart Factory genannt. (Quelle: DIE PRESSE, Ausgabe vom 2. Mai 2015)