LIEFERKETTEN – Unternehmen müssen sich absichern

Störfälle aller Art wirken auf weltweite Lieferketten ein. Unternehmen müssen sich Sorgen machen … und gezielt handeln. Der Faktor „Politik“ gehört unbedingt auf die Risikolandkarte der Unternehmen, wie das Beispiel Türkei zeigt. Ein Beitrag von Sabine Ursel

Komplexe Supply-Chain-Strukturen sind fragil und anfällig. Die Bandbreite störender „Events“ ist groß. Naturkatastrophen, Währungsvolatilitäten oder Lieferantenausfälle sind Beispiele für Risikofelder aller Art. Aber auch dem Faktor Politik müssen Unternehmen wesentlich mehr Aufmerksamkeit widmen, als das noch vor zehn Jahren der Fall war. Denn politisches Missmanagement im In- und Ausland gilt mittlerweile als einer der Haupt-Risikofaktoren für Unternehmen. Während im Inland eine unternehmens- und mittelstandsfeindliche Steuerpolitik, ein Dschungel von sich ständig ändernden Steuervorschriften, willkürliche Gebührenerhöhungen sowie Parteibuch- und Freunderlwirtschaft den Unternehmen die mittel- und langfristige Planung ihres Business regelmäßig verhageln, machen weltweit Unruheherde das Agieren auf den Märkten zusehends diffiziler. Aktuelles Beispiel: Türkei – einstiger Musterknabe unter den Schwellenländern.

Unsicherheit im Mittelstand. Christoph Leitl, Chef der Wirtschaftskammer Österreich, verweist auf das um acht Prozent zurückgegangene bilaterale Handelsvolumen zwischen Österreich und der Türkei im ersten Quartal 2016. „Bei Instabilität hält sich die Wirtschaft zurück“, sagt Leitl. Das ist bereits seit der Niederschlagung der Proteste im Istanbuler Gezi-Park 2013 der Fall. Derweil torpediert Autokrat Tayyip Erdogan Wachstum, Pro-Kopf-Einkommen und mithin auch die bisher florierenden Geschäfte mit EU-Partnern durch sein radikales Vorgehen scheinbar ohne Rücksicht auf Verluste weiter. Hinzu kommt: Die Devisenreserven der türkischen Notenbank sind gering, Handelsbilanzdefizit und Verschuldung heimischer Unternehmen im Ausland hoch. „Vor allem im deutschen Mittelstand herrscht große Unsicherheit“, berichtet Jan Nöther, Chef der Deutsch-Türkischen Handelskammer. Fragen zu Rechtssicherheit von Investitionen in der Türkei, mögliche Einschränkungen des Handels respektive der Zollabwicklungen sowie die Stabilität von Lieferketten werden derzeit an die Kammer herangetragen. Längerfristige Folgen für die türkische Wirtschaft sind laut Nöther zwar aus heutiger Sicht noch nicht abschließend zu beurteilen. Wer bisher die Türkei als neuen (Produktions-)Standort in Betracht gezogen habe, analysiere aber nun auch Alternativen wie Bulgarien oder Tschechien.

Bei Instabilität hält sich die Wirtschaft zurück. Christoph Leitl, Präsident der WKO

Von Störfällen überrascht

Das Beispiel Türkei zeigt: Aus vielschichtigen Gemengelagen ergeben sich diverse Fragen in Sachen Risikoabschätzung, die sich in diesem Fall auf eine ganze Region beziehen. Je größer der betroffene Bereich, desto schwerer gestaltet sich die Umsetzung von Folgemaßahmen. Generell gilt: Abwarten schadet dem Unternehmen ebenso wie ein rudimentäres Risikomanagement, das über Jahre hinweg nicht stringent ausgebaut wird. Die Geschäftsleitung hat die Pflicht, Maßnahmensysteme zur Gefahrenabwehr und Risikominimierung einzufordern und ernsthaft zu unterstützen. Schließlich lohnt der Aufwand: Bestehende Prozesse kommen auf den Prüfstand und werden angepasst. Mitarbeiter erhalten eindeutig definierte Handlungsoptionen. Das Unternehmen ist vorbereitet, wird agiler und sicherer. Klingt nachvollziehbar und beherrschbar … Aber warum sind dann immer noch Viele heillos überfordert, wenn „plötzlich“ eine Welle – scheinbar einem Deus ex machina gleich – über sie hereinbricht?

Die eingehende Betrachtung der Supply Chain und ihrer Risiken führt unter Umständen zu Strategiewechseln, die häufig mit einem Change-Management-Prozess begleitet werden müssen. Gregor van Ackeren, GF Van der Meer Gruppe

 

Umsetzung ist Kraftakt. „74 Prozent der Unternehmen haben pro Jahr mindestens eine Lieferunterbrechung und 72 Prozent keine vollständige Transparenz über ihre Lieferkette“, betont Rolf Zimmer, Mitgeschäftsführer beim Münchener Dienstleister Riskmethods. Bei diesen Fakten seien Produktionsausfall und Umsatzverlust nahezu vorprogrammiert. Mangelnde Transparenz und fehlendes Vertrauen in Partner entlang der Supply Chain nennt Sebastian Wölfl als Grund für zaghaftes Vorgehen. Er hatte 2011 an der Hochschule München ausgewählte Szenarien in der Konsumgüterindustrie anhand von Simulation untersucht. „Die eingehende Betrachtung der Supply Chain und ihrer Risiken führt unter Umständen zu Strategiewechseln, die häufig mit einem Change-Management-Prozess begleitet werden müssen“, sagt Gregor van Ackeren, geschäftsführender Gesellschafter und Geschäftsführer der Van der Meer Gruppe (VDMG; Oberhausen). „Und Strategien in der Praxis einzuführen ist häufig ein Kraftakt“, weiß der Organisationsberater aus eigener Erfahrung. Er war lange mitverantwortlich für den internationalen Einkauf bei Siemens und Grohe. Van Ackeren verweist zudem auf „oftmals fehlende Systeme und komprimierte Visualisierungen, die Zusammenhänge darstellen können“. Hier ist ein gezielter Blick auf Dienstleisterangebote hilfreich.

Zusammenhänge erkennen. Eine transatlantische Lieferkette hat im Schnitt 14 potenzielle Bruchstellen zuzüglich zahlreicher logistischer und politischer Unsicherheiten; bis zu 50 sind es gar bei langen interkontinentalen Supply Chains – das zumindest hat Sebastian Wölfl herausgearbeitet. Zwar seien Supply Chain Risk Management und zahlreiche Tools etablierte Felder, aber es würden nur wenig explizite Zusammenhänge zwischen einzelnen Risiken und möglichen konkreten risikopolitischen Maßnahmen hergestellt. Diese müssten sehr spezifisch für die jeweilige Supply Chain ergriffen werden, da Schnittstellen und Kernkompetenzen in jeder Kette anders gestaltet seien. Zudem träte ein Großteil der Risiken selten ein, so dass sich für die Unternehmung nur wenige Lernmöglichkeiten ergäben. Wölfls Erkenntnis: Störungen in der Zulieferkette lassen sich am besten durch eine Kooperation zwischen einzelnen Lieferanten der Supply Chain abfedern. Gefragt sind also professionelle Maßnahmenpläne, die es bereits im Vorfeld sorgfältig und abteilungsübergreifend zu analysieren gilt. Einzubinden sind diverse interne und externe personelle sowie systemische Schnittstellen, die im Bedarfsfall ohne Zeitverlust „scharf gestellt“ werden. Gregor van Ackeren rät, sämtliche Supply-Chain-Verantwortliche entlang des Wertschöpfungsprozesses – also Vertrieb, Einkauf, Produktion, F&E, HR und die Geschäftsleitung mit CFO bzw. kaufmännischem Leiter – in die Verantwortung einzubeziehen.

74 Prozent der Unternehmen haben pro Jahr mindestens eine Lieferunterbrechung und 72 Prozent keine vollständige Transparenz über ihre Lieferkette.
Rolf Zimmer, GF Riskmethods

 

Verankerung im Unternehmen

Identifizierte Material- und Dienstleistungsgruppen gilt es hinsichtlich ihrer Risikoklasse (Preis, Qualität, Lieferfähigkeit, Entwicklung) einzuordnen und in eine Strategie zu überführen. „Entscheidend für die tatsächliche Effektivität des Vorgehens ist die Konzentration auf erfolgskritische Kernbereiche des Einkaufsvolumens“, so Gregor van Ackeren. Die Anzahl der Betrachtungspunkte der zu erstellenden Beschaffungslandkarte sei auf das notwendige Minimum zu beschränken – ebenso der Fragen- und Prüfungskatalog. Die so gewonnene Transparenz ermögliche es, strukturiert Beschaffungsstrategien weiterzuentwickeln und relevante Szenarien mit allen Verantwortlichen entlang der Supply Chain zu fixieren, um anhand messbarer Kriterien Ergebnisrelevanz für die Entscheidungsträger nachvollziehbar zu machen.

Weitere To Do‘s. Wichtig ist das Einholen langfristiger Strategien bedeutender Lieferanten, der Blick auf Bonitätsauskünfte, der Check von Wiederbeschaffungszeiten, die Erstellung von Fall-back-Szenarien, die Einordnung der Herkunftsländer (CIA Fact Book), die Verteilung kritischer Produktgruppen auf mehrere Lieferanten und auch der Aufbau von Puffer- bzw. strategischen Lägern bei Unsicherheiten. Kernfrage bei der Beurteilung belastbarer Supply Chains im Rahmen des periodischen Stresstests: Haben unsere Lieferanten ihre Supply Chain ebenfalls im Blick? Hierbei bietet sich die Moderation eines Externen an. Gregor van Ackeren: „Allen Beteiligten im Unternehmen muss klar gemacht werden, dass es sich bei Risikobetrachtungen nicht um eine zeitlich begrenzte Darstellung handelt, sondern um laufende Prozesse mit regelmäßig zu aktualisierenden Statusreports.“

Die Verknüpfung gewonnener Daten mit abzuleitenden Konzepten ist die eigentliche Herausforderung. Sebastian Meise, Leiter Zentraleinkauf, Schwing-Gruppe

Praktische Ansätze

Statusreports muss dabei längst keiner mehr mühsam in Excel erstellen. Technische Lösungen sollten die Grundlage eines Risikomanagement-Systems bilden. Rolf Zimmer von Riskmethods verweist auf die Nutzung intelligenter Suchalgorithmen. Diese helfen, Risiken entlang der gesamten Lieferkette zu überwachen – vom (Sub-)Lieferanten über logistische Knotenpunkte bis zum Endkunden. Ein Frühwarnsystem sollte im Risikofall Alerts via E-Mail bzw. Mobile App senden. Zimmer rät u.a. zu folgenden automatisierten Systemfunktionen: Transparenz über Kritikalität und Abhängigkeiten in der Lieferkette, Bewertung des Schadensausmaßes, Untersuchung latenter Risikosituationen und negativer Trends (ohne Schadenseintritt) sowie Initiierung präventiv passgenauer Risikovermeidungsaktivtäten. Features sollten auch Informationen zu Wiederherstellungszeitraum, Substituierbarkeit, Alternativlieferanten, Einfluss auf Umsatz, Deckungsbeitrag und Ebit liefern. Rolf Zimmer ruft dazu auf, bei einer weltweiten Streuung von Lieferanten nicht nur die First-Tier-Ebene zu betrachten. 51 Prozent der Lieferunterbrechungen hätten ihren Ursprung in Sub-Lieferantenstrukturen. Die meisten Unternehmen würden diese Vorstufe jedoch vernachlässigen. Zudem gelte es, auch C-Teile Lieferanten, deren Teile in mehreren Produkten vorhanden sind, in die Risikoüberwachung einzubeziehen.

Durch Change zu neuen Zielen. „Für Mittelständler ist es wichtig, ein Tool zu etablieren, das den Supply-Chain-Verantwortlichen zuverlässige Informationen liefert und nicht durch eine zusätzliche Flut an Daten zu einer Mehrbelastung im Tagesgeschäft führt“, betont Sebastian Meise, Leiter Zentraleinkauf der Schwing-Gruppe (Herne/Westfalen), einem weltweit führenden Systemhaus für Betonbaumaschinen mit Fertigungsstandorten in Europa, Asien, Nord- und Südamerika sowie Niederlassungen in über 100 Ländern. „Die Verknüpfung gewonnener Daten mit hieraus zu entwickelnden Konzepten und Handlungsoptionen stellt laut Meise die eigentliche Herausforderung dar. „Viele vergessen, dass die Datenverfügbarkeit alleine noch keine zuverlässige Supply Chain beschert.“ Ein mit externer Hilfe durchgeführter Change-Management-Prozess half bei Schwing, das Thema Einkauf und Beschaffung stärker in den Fokus der Geschäftsführung zu rücken. Beim Risikomanagement wurden alle wertschöpfenden Bereiche in einem größeren Maße eingebunden, um für breite Akzeptanz zu sorgen. Der Einkaufschef hält die Schwing-Supply-Chain heute für „sehr zuverlässig“, wobei nicht alle Risiken zu 100 Prozent auszuschließen seien. Das Produktionswerk in St. Stefan (Kärnten) erlaube, „sehr flexibel“ auf Störungen eingehen: Wesentliche Fertigungsschritte im Kernbereich der Wertschöpfungskette und komplexe Produkte lassen sich hier in Eigenfertigung auch kurzfristig herstellen.

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Türkei: Niemand weiß derzeit, wohin sich die Türkei entwickelt | Foto: shock / Fotolia.de

Was tun in Sachen Türkei?

Sebastians Meises Team (rund 300 Millionen Euro Einkaufsvolumen) beschäftiget sich intensiv mit der Türkei. Auch wenn aus Sicht von Schwing noch keine unmittelbaren Anzeichen auf eine Gefährdung der Supply Chain hindeuten, wurde bereits eine Vielzahl Maßnahmen eingeleitet: u.a. Erhöhung von Sicherheitsbeständen an Fertigprodukten, Umverteilung von Rohstoffen, Überprüfung der Logistikwege, Vorbereitung auf Eigenfertigung, stärkere Berücksichtigung von Second oder Third Sources sowie noch engerer Vorort-Kontakt mit eventuell betroffenen Lieferanten. Riskmethods-Experte Rolf Zimmer rät dazu, sämtliche Lieferverträge mit Kunden und Lieferanten in der Türkei hinsichtlich vereinbarter Leistungen und eventueller Pönalen, Laufzeiten und Ausstiegsoptionen zu analysieren. Sind bereits alternative Lieferanten (auch Second Tiers) außerhalb der Türkei bekannt bzw. qualifiziert/auditiert? Neben Anpassungen der Lagerbestände für die aus der Türkei bezogenen Waren und dem Check aller logistischen Knotenpunkte, verbunden mit einem eventuellen „Re-Routing“ über alternative Kanäle, seien auch Versicherungspolicen zur Absicherung von Lieferkettenunterbrechungen zu überprüfen.

Ohne generelle Strategie geht nichts

Täglich gehen neue Meldungen über Veränderungen aller Art in der Türkei ein, was Managern das Abschätzen der Risiken erleichtert. Schnellschüsse sollten sich so erübrigen. Hingegen sind in entlegenen Teilen der Welt so manch andere Lieferkettenbedrohungen mit erheblichen Auswirkungen auf betroffene Industrieansiedelungen zumeist nicht in klassischen Standardmedien nachzulesen, etwa kleinere Erdbeben in Japan, Brände in Holzwirtschaftsbetrieben oder Erdrutsche in Kanada oder Russland. Auch die Auswirkungen von Großveranstaltungen werden unterschätzt. Beispiel: Rund um den G20-Gipfel in Hangzhou (China) am 4./5. September werden alle Produktionsstätten weiträumig stillgelegt. Rolf Zimmer: „Die größte Gefährdung der Lieferketten geht von den Unternehmen selbst aus. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Wer seine Abhängigkeit von globalen Lieferketten nicht erkennt oder professionelle Maßnahmen unterlässt, beschwört fatale Konsequenzen herauf.“ VDMG-Geschäftsführer Gregor van Ackeren betont: „Risikomanagement leistet einen wertvollen und gewollten Beitrag zur Optimierung des Working Capital. Abweichungen darf es geben, allerdings nur in zuvor definierten Leitplanken. Fehlt die grundsätzliche Ausrichtung, ist jede Mühe und Strategie zum Scheitern verurteilt.“